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Dann fressen sie die Raben

Dann fressen sie die Raben

Titel: Dann fressen sie die Raben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beatrix Gurian
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kommen.
    Er hat recht. Natürlich hat er recht. Wir müssen hier weg. Aber wohin? Oben in der Wohnung wartet Pa auf mich. Oh Gott, Pa! Er hat sicher schon Alarm geschlagen, weil ich nicht im Bett liege.
    Es kommt mir so vor, als wäre ich schon Stunden hier. Ich schaue auf das Sammelsurium aus Strümpfen, BHs und Strumpfgürteln, das sich über den anderen Haufen ausgebreitet hat. Was, wenn Frau Vogel genau weiß, wie es hier aussieht? Pa hält meinen Schreibtisch für chaotisch, aber ich finde meine Sachen immer sofort.
    Der Gedanke, dass Fremde in ihrer Wohnung waren, würde sie sicher schrecklich ängstigen. Ich suche den geplatzten Karton, aber der ist so lädiert, dass man ihn nicht wieder verwenden kann. Trotzdem stopfe ich die Dessous zwischen die kaputten Pappteile, vielleicht glaubt sie ja, dass der Karton einfach so runtergefallen ist.
    John hilft mir beim Aufräumen, dann hält er plötzlich inne. »Ich muss etwas zum Anziehen finden. So kann ich nicht länger rumlaufen.«
    Ich halte spontan ein Korsett vor seine breite Brust. »Wie wäre es damit?« Keine Ahnung, warum ich das tue, schließlich ist an der Situation nichts zum Lachen, ganz im Gegenteil. John feuert das Spitzenteil kommentarlos in den Karton und ich komme mir total idiotisch vor. Napoleon winselt und legt sich dann hin. Wie kann ich angesichts von Johns nicht nur abgetragenen und löchrigen, sondern blutverkrusteten Kleidern so peinlich herumwitzeln?
    »Ich besorge dir ein neues Sweatshirt und eine Hose«, biete ich ihm an. Und mir kommt eine Idee. Der heilige Oliver wird es sicher richtig finden, wenn ich John ein paar seiner Klamotten gebe, und das wiederum ist viel besser, als Frau Vogel zu beklauen. »Meine Eltern wohnen gleich hier im Haus.«
    »Ich weiß«, sagt John ganz selbstverständlich.
    Woher, frage ich mich, und was weiß er noch alles? Ich halte die Ungewissheit kaum noch aus.
    »Dann komm mit nach oben.«
    John zögert merklich, seine Gesichtshaut ist eine Spur grauer geworden. Doch dann scheint er sich einen Ruck zu geben. »Aber kein Mensch aus deiner Familie darf mich sehen«, sagt er und seine schöne Stimme wird hart. »Das musst du mir schwören!«
    Ich nicke und wir haben uns schon fast zur Tür durchgekämpft, als mir klar wird, dass ich Pa zuerst aus der Wohnung locken muss. Zum Glück erinnere ich mich daran, dass Frau Vogels Telefon in der Küche steht, sonst hätte ich es nie gefunden.
    Ich rufe in Mams Wohnung an und bete, dass niemand drangeht, aber der Hörer wird sofort abgenommen.
    »Pa …«
    »Verdammt, Ruby, was soll das? Kannst du mir das mal erklären?« Er brüllt so laut ins Telefon, dass Napoleon anfängt zu jaulen.
    »Pa, warum bist du denn so sauer? Als ich aufgewacht bin, war keiner da, und deshalb bin ich ein bisschen spazieren gegangen«, lüge ich und bin erstaunt, wie leicht mir das über die Lippen geht. »Aber jetzt ist mir plötzlich übel geworden, kannst du mich abholen?«
    »Hast du denn den Zettel nicht gesehen, den ich dir geschrieben habe?«
    »Welchen Zettel?« Ich gebe mir Mühe, sehr, sehr matt zu klingen. »Pa kannst du bitte schnell kommen?«
    »Und wo steckst du?«
    »Ich bin im Englischen Garten am chinesischen Turm.« Etwas anderes fällt mir nicht ein. Hoffentlich wundert er sich nicht darüber, von welchem Telefon ich anrufe. Mein Handy wurde ja gestern gestohlen. Aber ich schätze mal, er ist zu aufgeregt, um sich darüber Gedanken zu machen.
    »Ich komme, so schnell ich kann. Bleib einfach dort sitzen, wo du bist.«
    »Geht klar. Bis gleich, danke Pa, und nimm dein Handy mit, falls wir uns verpassen, ja?« Nur, damit ich ihn nachher von zu Hause anrufen kann. Sonst sucht er den ganzen Tag nach mir. Oh Mann, das ist wirklich eine miese Nummer. Und alles für John, den ich gar nicht kenne. Und von dem ich nicht wirklich weiß, was für ein Spiel er spielt.
    Ich lege auf und wir schleichen uns zur Tür. Keine zwei Sekunden später poltert Pa durchs Treppenhaus. Ich warte noch ein paar Minuten, falls er etwas vergessen hat, dann nicke ich John zu und kraule Napoleon noch mal kurz, bevor wir nach oben huschen.
    John zögert an der Schwelle zur Wohnung, er schaut an sich herunter, dann wieder zu mir und ich schäme mich noch mehr über meinen grandiosen Witz mit dem Korsett, weil mir jetzt auch noch klar wird, dass er im Unterschied zu mir seit gestern nicht geduscht hat. Und so fertig, wie er aussieht, hat er auch nicht in einem kuscheligen Bett geschlafen. Wer weiß, ob er

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