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Dann fressen sie die Raben

Dann fressen sie die Raben

Titel: Dann fressen sie die Raben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beatrix Gurian
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mich, wer mich denn dann überfallen hat. Und was der Typ hier eigentlich abzieht.
    »Wer bist du?«, frage ich und klinge heiser.
    »Getauft bin ich auf den Namen John Amandla.«
    »John.« Ich wiederhole seinen Namen und versuche aufzustehen, schwanke und falle wieder zurück.
    Er kommt zögernd näher und schaut mich dabei entschuldigend an. Als ich schließlich nicke, ist er mit einem Schritt bei mir und zieht mich hoch. Dabei berühren meine Handflächen kurz seine Brust und ich bin überrascht, wie stark sein Herz hämmert, fast, als ob er genauso viel Angst hätte wie ich. Aber vielleicht täusche ich mich und sein Herz schlägt nur die letzten Trommelwirbel für die Jagd und ich mache den größten und letzten Fehler meines Lebens, weil ich genau dem Falschen vertraue.
    »Was tust du hier?«
    »Ich wollte mir etwas zum Anziehen ausleihen.« Er deutet auf seine völlig verdreckten Kleider.
    »Wie bist du hier hereingekommen? Bist du ein Freund von Frau Vogel?«, frage ich und bin gespannt, ob er jetzt lügen wird.
    Er schüttelt den Kopf. »Nein, sie kennt mich nicht mal. Aber ich wusste, wie es bei ihr aussieht, und dachte, dass ich hier ein paar Klamotten finde. So kann ich nicht mehr herumlaufen, ohne aufzufallen.«
    Ich betrachte ihn genauer und sehe, dass seine breite Brust in dem hellgrauen Hoodie mit Dreck und rostroten Flecken übersät ist. »Ist das mein Blut auf deinem Shirt?« Jetzt überzieht doch wieder ein Frösteln meinen Rücken.
    Er nickt. »Du warst bewusstlos. Ich musste dir helfen, musste verhindern, dass du stirbst, so wie Lina.«
    Mir schießen Tränen in die Augen. Wie Lina? Hat er sie gekannt? Mir kommt ein Gedanke, der mir erst abwegig erscheint, aber einen Versuch ist es wert.
    »Warst du das etwa, der meine Schwester heimlich im Krankenhaus besucht hat?«
    Er nickt. »Ich war ihr das schuldig. Sie hat so viel für uns getan. Ich habe gedacht, im Krankenhaus wäre sie in Sicherheit, aber das war ein schrecklicher Irrtum, dort war die Gefahr am größten. Doch das habe ich erst nach meinen ersten Besuchen herausgefunden.«
    Er war also dort. Mein Kopf versucht, das alles zu verstehen. Er war dort, aber ich habe ihn nie gesehen. Dann muss er der geheimnisvolle Besucher sein, den Samira für Linas Freund gehalten hat.
    »Wer bist du? Unser Schutzengel?«
    John schüttelt den Kopf. »Nein. Ich bin niemandes Engel.« Er lacht bitter auf, als wäre das der schlechteste Witz des Jahrhunderts.
    »Aber was weißt du über den Tod meiner Schwester?«
    »Nicht annähernd so viel, wie Lina über den Tod von meinem Bruder wusste.« John klingt verletzt.
    Ich sehe ihn an und fange langsam an zu begreifen. Das Foto, das mir jemand – war er das? – zugesteckt hat – das zeigt gar nicht ihn. Es zeigt seinen Bruder. Die Ähnlichkeit ist gespenstisch. Wie er hat John hohe Wangenknochen und eine hoch angesetzte Nase, die unten sehr breit wird. Die Farbe seiner schön geschwungenen Lippen erinnert mich an die rosa Schale von Litschis, aber natürlich sind sie nicht stachelig, sondern weich wie Pflaumen. Wie sein Bruder hat er einen breiten muskulösen Oberkörper, der jetzt sehr angespannt wirkt, wie zum Sprung bereit.
    »Das mit deinem Bruder tut mir wirklich leid.«
    »Sein Name war Kimoni. Er war ein Träumer und nun ist er tot.« John ballt wütend seine Fäuste und boxt in die Luft, aber er macht mir keine Angst mehr. Ich verstehe seinen Zorn. »Ich will, dass seine Mörder bestraft werden.«
    »Du kennst sie?«, frage ich. »Und du bist nicht zur Polizei gegangen?«
    Er schüttelt den Kopf. »Ich wünschte, ich könnte, aber das geht nicht. Lina wollte es für mich tun. Sie hatte Beweise, aber mit ihrem Tod sind sie spurlos verschwunden.«
    Ich bin also nicht verrückt! Lina ist auf etwas gestoßen, das mit dem Tod von Johns Bruder zu tun hat. Und deshalb musste sie sterben.
    Oder? Es kann auch ganz anders sein, fällt mir ein. Vielleicht belügt mich dieser John. Vielleicht hat er in Wahrheit hier drin etwas anderes gesucht und seine Kleider sind ihm völlig egal.
    »Weißt du, wer Lina getötet hat?«
    »Nein. Ich kenne nur die Mörder meines Bruders.«
    Ich sehe mich in dem Chaos um, in dem wir stehen. »Wir müssen uns unterhalten. Du musst mir alles erzählen. Sofort.«
    »Reden …« John klingt völlig hoffnungslos. »Reden.« Er gibt sich einen Ruck. »Ja, vermutlich müssen wir das. Aber nicht hier.« Gehetzt sieht er sich um, als könnte jeden Moment Frau Vogel durch die Tür

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