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Dann fressen sie die Raben

Dann fressen sie die Raben

Titel: Dann fressen sie die Raben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beatrix Gurian
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wieder, vorwärts und rückwärts, bis sie eine Eisplatte herausgestanzt hatte und einbrach. Ich wollte zu ihr, aber ich konnte mich nicht bewegen, genau wie die anderen am Ufer. Untätig musste ich mit ansehen, wie sie im eisigen Wasser versank, ihr Blick nicht erschrocken, sondern vielmehr ungläubig.
    In dem Augenblick, als sie unter dem Eis verschwunden war, verwandelte sich das Eis in Wellen und Meer. Wir standen beide an unserem Lieblingssandstrand in Kreta und betrachteten Gretchen, die mit Alex und John zusammen eine riesige Sandburg gebaut hatte, eine Burg in der Form eines @-Zeichens.
    Lina schlug vor, schwimmen zu gehen, aber niemand wollte mitkommen. Sie drehte sich zu mir. »Wir sehen uns nächstes Jahr in Pitsidia!«, rief sie, winkte mir zu und rannte ins Meer, wo sie von riesigen schaumig grünen Brechern verschlungen wurde.
    Daraufhin zerstörten Alex und Gretchen die Sandburg und trampelten übermütig wie Kinder darauf herum, bevor auch sie im Wasser verschwanden. John, der angefangen hatte, aus dem feuchten Sand einen Sarg zu bauen, blieb mit mir zurück.
    Wir starrten uns an, sein Oberkörper war nackt wie in der Dusche, wir wollten uns küssen, aber da bewegte sich der Sand des Sarges, erst kam ein Finger, dann eine Hand heraus. Mir blieb im Traum fast das Herz stehen vor Angst und auch jetzt wird mein Hals ganz eng. Dann erhob sich Oliver aus dem Sarg, schüttelte den Sand ab und rannte ins Wasser. Und erst von hinten konnte man erkennen, dass die komplette Rückseite von Oliver offen war und man einen direkten Blick auf die blutigen Därme und pulsierenden Organe in seinem Körper hatte.
    Ich setze mich ruckartig im Bett auf. Was für ein Traum! Wie lange habe ich geschlafen? Draußen ist es noch hell, aber ich habe jedes Zeitgefühl verloren.
    Mein Mund ist trocken, ich kann kaum schlucken. Ich muss etwas trinken, muss diese schrecklichen Traumbilder abschütteln. Ich stehe auf und gehe zur Tür, wo mich Pa schon abfängt.
    »Wie geht es dir?«
    »Ich könnte einen Kaffee vertragen«, murmele ich und frage mich, warum in meinem Traum niemand Lina geholfen hat.
    »Es ist schon nach acht. Wenn du jetzt Kaffee trinkst, liegst du die ganze Nacht wach.«
    Es ist gleich acht, oh Gott, schon so spät! Wie konnte ich nur so lange schlafen? Und was ist mit John? Ich kann mir nicht vorstellen, dass er immer noch auf dem Spielplatz ist, und ich habe keine Ahnung, wie oder wo ich ihn wiederfinden kann.
    Ich verschwinde im Bad. Während ich Wasser in mein Gesicht schaufele und sehr aufpassen muss, mir dabei nicht wehzutun, rede ich mir gut zu. Ich brauche einen Plan.
    Ja, einen Plan. Den bräuchte ich schon seit Tagen. Statt systematisch vorzugehen, stürze ich mich von einer Katastrophe in die nächste. Weil ich einfach nicht richtig denke!
    »Glaubst du an Träume?«, frage ich meinen Vater, als ich in der Küche vor dem Tee sitze, den er mir gekocht hat. Aber in der Sekunde, in der ich seinen Gesichtsausdruck registriere, könnte ich mich ohrfeigen. Oh Gott, das Kind träumt auch noch, na dann sollte sie wirklich zu einem Psychiater, vermutet er jetzt.
    »Manchmal«, erwidert er aber nur. »In der Nacht vor deiner Geburt habe ich von einem Erdbeben geträumt.« Er grinst mich an und ich kapiere mühsam, dass er einen Witz machen wollte.
    Ich verbrenne mir die Zunge am heißen Tee und fange an zu schlürfen.
    Pa will mich gerade ermahnen, doch da kommen Mam und Oliver nach Hause. Sie haben gestritten, das fühle ich deutlich. Pa und ich werfen uns einen Blick zu und ich verstehe ihn so, dass er nichts von meinem Verschwinden heute Morgen verraten wird.
    Mam läuft zu mir und umarmt mich, will wissen, wie ich mich fühle und ob ich auch genug gegessen habe. Dann sind sich alle drei einig, dass ich wieder ins Bett gehen soll. Ma fragt meinen Vater, ob er heute hier übernachten will, und mit einem Seitenblick auf mich stimmt er sofort zu und geht mit Oliver ins Gästezimmer.
    Ich überlege, ob ich vortäuschen soll, dass mir nach einem Spaziergang ist, aber wie ich meine Eltern kenne, werden sie sich an meine Fersen heften und mich nicht aus den Augen lassen, bis ich wieder zu Hause bin.
    Deswegen erkläre ich mich nur allzu gerne bereit, ins Bett zu gehen, was ich natürlich nicht vorhabe, aber in Linas Zimmer bin ich wenigstens allein. Und abgesehen davon, dass ich bei Olivers Anblick nur wieder an meinen Traum erinnert werde, kann ich dort viel eher all das durchdenken, was passiert ist.
    Ich setze

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