Dann fressen sie die Raben
mich an Linas Schreibtisch, ärgere mich zum tausendsten Mal, dass ich das Passwort für ihren Computer nicht kenne, und suche nach Stift und Papier. Wenn ich alles notiere, was ich bisher erfahren habe, und da ein bisschen Struktur reinbringe, komme ich vielleicht weiter. Das hat mir damals beim Atargatisprojekt auch immer geholfen.
Hochmotiviert kaue ich auf dem Stift herum, doch meine Gedanken wirbeln unkontrolliert durch den Kopf wie Löwenzahnschirmchen im Wind.
Wir sehen uns nächstes Jahr in Pitsidia , hat Lina in meinem Traum gesagt. Pitsidia, klar, davon habe ich geträumt, weil Pa mir von seinen Gesprächen mit Lina erzählt hat. Die Insel der Seligen. Ich betrachte ihren Computer. Und wenn … ich schalte ihn an und warte, bis er hochgefahren ist und nach dem Passwort verlangt.
Dann gebe ich Pitsidia ein und bei jedem Buchstaben steigt meine Spannung.
Ich traue mich kaum hinzuschauen.
Nichts.
Passwort abgelehnt. Und wenn ich es bloß falsch buchstabiert habe? Ich schreibe die Buchstaben aufs Papier und dann tippe ich es erneut ein und schaue diesmal ganz genau hin.
Wieder nichts.
Okay. Noch ein letzter Versuch, dann gebe ich auf. Ich schreibe alle Buchstaben klein.
Bling, bling, Linas Computer öffnet sich.
Ich sitze da und fasse es nicht, komme mir vor wie Ali Baba vor der Schatzhöhle.
Und jetzt? Ich starre auf den Bildschirm und weiß nicht, wonach ich suchen soll.
Als Erstes nehme ich mir die Mails vor, aber ich finde keine einzige. Das ganze Mailprogramm ist clean, als ob Lina nie auch nur eine einzige Mail geschrieben oder empfangen hätte, auch der Entwurfsordner und der Papierkorb sind leer. Ich stöhne. Jemand hat Linas Computer aufgeräumt, so viel ist mal klar.
Als Nächstes nehme ich mir den Bildordner vor, aber dort finde ich nur wenige Aufnahmen. Das allerdings muss nicht unbedingt verdächtig sein, Lina war nicht der Typ, der Fotos im Rechner verschimmeln ließ. Wenn ihr die Bilder gefielen, hat sie Fotobücher daraus gemacht, alle anderen hat sie gelöscht. Ihre Meinung war: Verstopft bloß den Rechner und schaut eh kein Schwein mehr an.
Nach den Bildern klicke ich mich in den Dokumentenordner und atme auf. Hier sind noch jede Menge Dateien und Ordner vorhanden. Hatte derjenige, der den Rechner aufgeräumt hat, nicht genug Zeit? Oder sollte auf den ersten Blick alles normal aussehen? Ich überfliege die Namen, die alle nach Schulreferaten klingen. Aber darunter kann man natürlich vieles abspeichern. Wenn ich ein Online-Tagebuch hätte, würde ich es auch Physik-Ex nennen.
Ich quäle mich durch die Dateien: Thomas Mann, Weimarer Republik, Evolutionstheorien, DNA und Elektrolyse. Aber tatsächlich sind das alles eher dürftige Referate oder Übungsaufgaben – keine Datei enthält irgendetwas Privates.
Nach zwei Stunden bin ich schon reichlich genervt, deshalb verstehe ich nicht gleich, was ich da vor mir habe, obwohl ich den Namen der Datei nur allzu gut kenne. Aber als ich es kapiere, schnürt sich meine Kehle zu. Atargatis! Lina hat mein Jugend-forscht -Projekt auf ihrem Rechner. Jetzt fühle ich mich wirklich wie Ali Baba. Von mir hat sie es nicht, also muss sie es sich von der Datenbank bei Jugend forscht runtergeladen haben, wo es für die Öffentlichkeit zur Verfügung steht.
Ich bin sicher, das ganze Granatapfelzeug war ihr piepegal. Sie wollte irgendwie Anteil an meinem Leben nehmen. Meine große Schwester war neugierig, was der kleine Supernerd so treibt. Ich muss schlucken, alles in mir ist ganz zittrig, als ich die Datei anklicke. Ich wünsche mir so sehr, dass sie einen Kommentar dazu geschrieben hat, irgendetwas, und sei er noch so winzig.
Es kommt mir so vor, als würde die Datei ewig brauchen, bis sie vollständig geladen ist, und während ich ganz kribbelig vor Ungeduld warte, höre ich Mam an der Zimmertür. Ich muss schnell ins Bett springen und so tun, als ob ich mich ausruhen würde. Glücklicherweise glaubt sie mir, als ich ihr vorspiele, dass ich schon kurz davor bin einzuschlafen.
»Dann lassen wir dich ab jetzt in Ruhe«, sagt sie und streicht mir leicht über den Kopf. »Papa ist noch in der Küche, Oliver und ich sind im Schlafzimmer, falls du etwas brauchst.«
Die Tür fällt ins Schloss und ich atme auf.
Schon einen Moment später sitze ich wieder am Schreibtisch. Die Datei ist endlich geladen, es sind zwei Gigabyte, was nicht sein kann, denn die Größe aller Projektberichte ist auf wenige Kilobytes beschränkt, damit die Datenbank von
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