Dann fressen sie die Raben
es für das Beste, wenn wir dich für ein paar Tage an einen Ort bringen, wo kluge Menschen sich um dich kümmern.«
Ich starre ihn nur an. Zu einer anderen Reaktion bin ich erst nach einem Augenblick fähig. »Du willst mich also auch in eine Klapse stecken?«
Er grinst mich an. »Ja, wir haben da an Eine flog über das Kuckucksnest 2 gedacht. Nein, was für ein Unsinn, Oliver kennt da ein kleines Sanatorium, in dem du dich erholen kannst. Schließlich musst du nicht nur Linas Tod, sondern auch noch diesen Überfall verarbeiten. Und ganz offensichtlich sind wir dir dabei keine große Hilfe.«
»Ich gehe nirgendwohin«, sage ich, so fest ich kann. »Ich will jetzt nicht weg von euch. Weg von meiner Familie, egal wie merkwürdig die auch ist.«
Pa zögert.
»Pa, das meinst du doch nicht ernst. Du weißt genau, wie wichtig ihr für mich seid.« Okay, das ist der richtige Tonfall. Seine Miene wird weich. »Abgesehen davon muss ich zu Linas Beerdigung. Das verstehst du, oder?«
Pa nickt. »Du hast recht«, sagt er. Er erhebt sich. »Ich spreche mit deiner Mam und Oliver, okay?«
»Danke, Pa.«
Er wendet sich zur Tür. »Versuch zu schlafen, Mäuschen. Ich bin im Wohnzimmer und arbeite.«
Ich rufe ihn noch einmal zurück. »Verrätst du mir jetzt, worüber du bei euren heimlichen Treffen mit Lina gesprochen hast?«
Pa schüttelt den Kopf. »Ein für alle Mal, ich habe sie nicht heimlich getroffen.« Er kommt zu meinem Bett und streicht mir über die Haare. Dann seufzt er, vielleicht zum hundertsten Mal an diesem Tag. »Also gut, wir haben natürlich über die Schule geredet und über Oliver und Alex. Aber ehrlich gesagt hat sie mich meistens nach dir ausgequetscht. Es hat ihr leidgetan, dass sie sich mit Merlin eingelassen hat, und sie hat sich nichts mehr gewünscht, als dass du ihr verzeihst und wir dann alle zusammen wieder mal nach Pitsidia fahren, so wie früher.« Die letzten Worte sagt er wie zu sich selbst. »Irgendwie scheint Kreta für sie so etwas wie die Insel der Seligen gewesen zu sein.«
Pitsidia. Ich muss heftig schlucken. Da habe ich schwimmen gelernt, da haben wir uns am Strand mit Sand beworfen, bis wir so lachen mussten, dass wir nicht mehr stehen konnten. Und diese unvergessliche Nacht, als Lina und ich bei unserem heimlichen Ausflug gesehen haben, wie die unter Naturschutz stehenden Schildkröten in der Morgendämmerung geschlüpft und ins Meer geschwommen sind. Wir werden nie wieder dort zusammen hinfahren. Nie wieder. Und ich habe ein Jahr lang die Beleidigte gespielt, als ob wir ein ganzes Leben lang Zeit hätten. Wenn sie mir alles anvertraut hätte, wenn ich gewusst hätte …
Pa streicht noch einmal über meine Haare und verlässt Linas Zimmer.
Und zum x-ten Mal schwöre ich mir herauszufinden, wer schuld ist, dass Lina und ich nun nie mehr miteinander reden oder nach Kreta fahren können.
Ich lasse ein paar Minuten verstreichen und schleiche mich dann so leise wie möglich zur Tür. Doch kaum habe ich sie geöffnet, da steht Pa schon vor mir und fragt mich, wo ich hinwill. Ich murmele etwas vom Badezimmer, aber er lässt sich nicht abschütteln und bleibt in meiner Nähe wie ein Wachhund.
Hoffnungslos trabe ich wieder zurück ins Bett und flehe John in Gedanken an, auf mich zu warten. Schäme mich, hier so weich und warm rumzuliegen, während er dort draußen in der Kälte hockt. Sehe seine Narben vor mir und schäme mich noch mehr. Denke an seinen toten Bruder, Kimoni, und frage mich, wie John mit dem Verlust seines Bruders klarkommt. Lehne mich erschöpft zurück und denke, dass ich einfach nur schlafen möchte, schlafen und vergessen und in meinem Bett in Nusstal aufwachen und erfahren, dass all das hier nie passiert ist.
21. Kapitel
Ich wache schweißgebadet auf. Normalerweise erinnere ich mich nicht oft an meine Träume, aber eben hatte ich einen merkwürdigen Albtraum, den ich noch ganz deutlich vor mir sehe. Lina war wieder lebendig und hat mit mir gesprochen. Es war ein sehr kalter Wintertag und wir wollten auf dem See in Nusstal Schlittschuh laufen. Wir waren so alt wie jetzt, sind aber trotzdem wie Vierjährige mit unseren Kuschelhasen im Arm zum Ufer gegangen und haben sie dort, obwohl aus ihren Mündern weiße Atemwölkchen kamen, tief im Schnee vergraben.
Dann waren Dennis, Ma und Pa plötzlich auch da und wir sahen zu, wie Lina als Erste auf den See ging, wo sie mit den Kufen ihrer Schlittschuhe ein riesiges @-Zeichen in das Eis gravierte, immer und immer
Weitere Kostenlose Bücher