Dann fressen sie die Raben
Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht. Und ich werde ja auch mit ihr sprechen, gleich nachher.
Er schlägt ein paarmal seine Hände um sich, um wärmer zu werden, und sehnt sich nach einem heißen Tee und etwas Brot, doch er hat kein Geld mehr. Außerdem treibt ihn eine große Unruhe, zum Haus der Gazelle zurückzukehren. Sie unterschätzt immer noch die Gefahr, in der sie schwebt.
Da ist wieder das Geräusch, das ihn aus dem Schlaf gerissen hat, und diesmal erkennt er die Schritte von Amari.
Amari, der von Johns Verstecken weiß und seine Schlafplätze kennt, Amari, der ihn ausschalten möchte. John bleibt starr in dem Häuschen und geht seine Möglichkeiten durch. Er kann hierbleiben, weiter auf die Gazelle warten und hoffen, dass Amari seine Witterung nicht aufgenommen hat. Aber so bringt er auch sie in Gefahr. Nein, er sollte Amari von hier weglocken und sich dann vergewissern, dass Amari wie immer seiner Arbeit mit der Frühschicht weit weg von diesem Spielplatz nachgehen muss. Dann kann er wieder zurückkehren und mit ihr reden.
John springt vom Häuschen herunter und bemerkt voller Genugtuung, dass sein Verfolger zu fett und zu träge geworden ist, um es noch mit ihm aufnehmen zu können.
So schnell er kann, sprintet er davon, nur weg von hier und ohne zu wissen, wohin.
22. Kapitel
Wer auch immer Linas Computer klargemacht hat, war entweder unter Zeitdruck oder fantasielos. Denn es gibt noch zwei Verläufe, die ich anschauen kann, und auch die Lesezeichen sind nicht gelöscht worden. Ich muss mich konzentrieren, weil mir ständig wieder die Galafotos vor mein inneres Auge geraten, vor allem das eine, auf dem Lina so glücklich aussieht.
Ich klicke auf den letzten Tag, der mir angezeigt wird. Sie war auf der Astroseite ihrer Schule, dann hat sie bei Amazon Bücher angeschaut. Wenn Frauen zu sehr lieben und Das Helfersyndrom. Hilfe für Helfer.
Das hat so überhaupt gar nichts mit den Fotos zu tun, dass ich langsam verzweifle. Sie war im iTunes-Store, wo sie sich die Diva- Filmmusik runtergeladen hat, die ich auf der CD in ihrem Zimmer gefunden habe. Außerdem hat sie die Website von Ärzte ohne Grenzen angeschaut, dann war sie bei münchenwetter.de und bei zalando und schließlich bei der Süddeutschen Zeitung, aber man kann leider nicht mehr sehen, welche Artikel sie gelesen hat.
Ich klicke noch einen Tag zurück, doch mehr Dateien beinhaltet der Verlauf nicht. Ich nehme mir ihre Lesezeichenliste vor und arbeite sie ab. Es ist inzwischen weit nach Mitternacht, ich bin unglaublich müde, aber gleichzeitig sehr klar. Endlich gibt es etwas Handfestes, endlich kann ich vorankommen, zumindest, wenn ich mich anstrenge.
Das alles ist ein bisschen unheimlich, so, als ob ich in das Gehirn meiner Schwester eindringen würde. Sie hat eine Witzseite markiert, jede Menge Tageskartenseiten, ein Kretaforum, lovelybooks und ein Blog wahrste-liebe.de. Dann fettrechner.de, Ebay, Amazon und Frauenzeitungen.
Am neugierigsten macht mich das Liebesblog, vor allem nach den Büchern, die sie sich bei Amazon angesehen hat. Ich klicke mich dorthin und bin wider Willen fasziniert von dem, was ich da lese. Der aktuellste Eintrag befasst sich mit Schmerz.
Ich scrolle zurück bis zum ersten Eintrag und innerhalb von Minuten ist auch noch die letzte Müdigkeit aus meinem Hirn gewichen. Was ich da überfliege, schockiert mich bis auf die Knochen.
Er war nervös, weil er ganz genau gewusst hat, wie verdorben wir sind, und seine größte Sorge war dann auch nicht, wie es mir dabei geht, sondern nur, ob wir erwischt werden.
Das lese ich gleich im ersten Eintrag.
Vor allem meine Mutter durfte nichts davon erfahren, es hätte ihr das Herz gebrochen. Und auch meine Schwester hätte nur alles wieder in den falschen Hals gekriegt und womöglich gepetzt, nein, die Kleine soll in ihrer idyllischen Puppenstube bleiben, bis sie selbst merkt, wie hohl sie sich anfühlt.
Mir läuft ein Schauer über den Rücken.
Er und ich mussten natürlich in ein Hotel gehen, weil wir es nicht riskieren konnten, von ihr gesehen zu werden.
Mittlerweile klebe ich fast vor dem Bildschirm, so elektrisiert bin ich.
Zum Glück hat er das auch eingesehen, obwohl er sonst nicht gerne Geld ausgibt. In eine Absteige wäre ich niemals mitgegangen.
Ich lehne mich im Schreibtischstuhl zurück. Meine Augen brennen. Wenn man das auf reine Fakten reduziert, dann kommt das dabei heraus:
Eine Frau hat eine Liebesbeziehung mit einem älteren Mann, der
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