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Dann fressen sie die Raben

Dann fressen sie die Raben

Titel: Dann fressen sie die Raben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beatrix Gurian
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hole mir eine schwarze Jeans und ein dunkles Kapuzenshirt heraus. Wir waren fast gleich groß, aber ich bin viel dünner als sie, sodass ihre Sachen an mir herumschlackern. Aber das ist mir lieber, als wenn sie mir gut passen würden, das käme mir falsch vor, als wollte ich sie sein. Trotzdem muss ich schlucken, als ich die Kleider meiner toten Schwester anziehe. Ich hoffe und wünsche mir, dass Lina mir so ein bisschen nahe ist, mich begleiten und mir helfen kann.
    Ich schleiche ins Bad, leise wie ein Einbrecher, und tatsächlich rührt sich nichts. Ich putze nur schnell meine Zähne und spritze mir Wasser ins Gesicht. Ein Blick in den Spiegel zeigt mir, dass die Haut um das eine Auge sich zu einem kranken Blaugrün verfärbt hat und die Kratzer eine rostbraune dicke Kruste gebildet haben. Egal. Alles besser, als tot zu sein.
    Ich schreibe noch einen Zettel, dass ich nur ein bisschen frische Luft tanken möchte und spätestens mittags wieder zurück bin, dann nehme ich meine Schuhe in die Hand und schlüpfe in den Flur. Die Tür zum Gästezimmer ist nur angelehnt, dahinter höre ich Pas gleichmäßige Atemzüge. Ich verfluche den Dielenboden, der bei jedem dritten Schritt knarzt, aber ich habe Glück. Niemand wird wach.
    Unendlich langsam und vorsichtig öffne ich die Tür und schiebe mich aus der Wohnung.
    Geschafft! Im Eiltempo durchquere ich das Treppenhaus und anschließend den Hinterhof und bin schon fast im Tordurchgang, als ich eine Stimme hinter mir höre. »Ruby, bist du das?«
    Ich erstarre. Das kann doch nicht wahr sein!
    Aber da kommt Leon schwanzwedelnd zu mir. Ich streichele ihn. »So früh schon unterwegs?«, fragt Frau Vogel neugierig. »Oh Gott, was ist denn mit deinem Gesicht passiert?«
    »Ich bin dumm gefallen«, antworte ich. Ich sehe mich hektisch um. Wenn mich Ma oder Oliver hier erwischen, kann ich meinen Plan vergessen.
    »Ich muss leider los, Frau Vogel«, sage ich und hoffe, dass sie nicht nachfragt, wohin ich denn morgens um fünf so dringend möchte. Aber auf die Idee kommt sie gar nicht.
    »Ja, meine Liebe«, sagt sie freundlich. »Dann lauf mal.«
    Ich bin schon fast um die Ecke, da ruft sie mir noch hinterher: »Übrigens, ich werde bestimmt bald die Sachen von deiner armen Schwester finden.« Ich bleibe stehen, drehe mich um und gehe zurück zu ihr. Daran habe ich die ganze Nacht nicht mehr gedacht!
    Frau Vogel strahlt mich an. »Mir ist wieder eingefallen, dass sie mir eine schicke, große, türkis glänzende Papiertüte gegeben hat.«
    Ich versuche, ein Seufzen zu unterdrücken. Solch eine Tüte in dem Chaos zu finden, erscheint mir wie die berühmte Nadel im Heuhaufen. Ich winke ihr trotzdem dankbar zu, ehe ich dann endgültig durch den Torbogen verschwinde.
    Ich trabe durch die Straßen, und obwohl hier alles viel besser beleuchtet ist als draußen in Riem, habe ich ein mulmiges Gefühl. Mir tut noch alles weh von dem Überfall, bei dem ich begriffen habe, wie verletzbar ich bin. Es ist ja nicht weit, sage ich mir, der Spielplatz ist gleich um die Ecke.
    Wenn John denn noch dort ist. Aber den Gedanken schiebe ich gleich von mir. Er muss da sein, sonst weiß ich nicht weiter.
    Im Dunkeln sieht so ein Kinderspielplatz besonders traurig aus, die Schaukeln bewegen sich im Nachtwind leicht hin und her, obwohl niemand darin sitzt. Das Metall der Rutsche schimmert uringelb im Straßenlicht und der Sand hat schwarze Löcher.
    Auf den ersten Blick scheint der Spielplatz vollkommen verlassen. Ich öffne das kleine Törchen und sofort huscht etwas vor mir weg. Viel zu groß für eine Maus, zu klein für eine Katze. Ratten. Mich überläuft ein Schauder, denn in der Hinsicht war ich mit Lina einig, Ratten sind ekelerregend. Oliver hat erzählt, ganz Schwabing sei von Ratten verseucht, er hätte sogar in den Kellern vom Elisabethenstift welche gesehen.
    Vergiss die Ratte, such lieber nach John. Ich schaue mich um. Nichts. Ich mache mir damit Mut, dass ich letztes Mal John auch erst bemerkt habe, als er direkt vor mir stand. Ich überlege, wo ich mich verstecken würde. In einem der beiden Holzhäuschen, aber irgendwie habe ich große Hemmungen, da reinzuklettern. Sie sind mir unheimlich. Jedenfalls im Dunkeln.
    »John?«, rufe ich leise, aber es rührt sich nichts.
    Vielleicht schläft er ja auch.
    Oder er ist, und das ist viel wahrscheinlicher, längst gegangen.
    Ruby, du wirst es nie erfahren, wenn du nicht nachsiehst.
    Es fällt mir schwer, die dicken Holzstäbe raufzuklettern, ich bin

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