Dann gute Nacht Marie
vor, ein Goethe-Werk sozusagen unter falschem Namen an sich selbst zu adressieren, doch auch für andere Verwendungszwecke waren fremde Namen eher kontraproduktiv. Nachmachen konnte sie seine manchmal doch recht überschwängliche Art des Dichtens natürlich sowieso nicht. Das hätte vermutlich auch kein sprachlich versierterer Schreiber geschafft. VERWERFEN. Und wenn ihr auch das Lesen des lange nicht mehr beachteten Gedichtbandes durchaus Spaß machte, merkte Marie recht bald, dass sie dem Verfassen eigener Liebesbriefe so in keinem Fall näherkam. Im Gegenteil: Sie verbrauchte recht unergiebig wertvolle Zeit.
Um die halbe Stunde mit Goethe nicht ganz ungenutzt zu lassen, setzte sich Marie mit ihrem Schulfüller und einem jungfräulich weißen Briefbogen an den Wohnzimmertisch.
Gerade noch rechtzeitig fiel ihr ein, dass ihre Liebesbrief-Fälschung sofort auffliegen würde, wenn sie die Zeilen in ihrer eigenen Schrift zu Papier brächte. Also musste sie noch einmal unterschiedlich geformte Buchstaben üben, vergleichen und wieder ändern, bis sie sich ans Werk machen konnte. Dann schrieb sie mit ihrer jungenhaftesten Schrift eines der Gedichte, an das sie sich aus ihrer Schulzeit noch erinnern konnte, ab:
»Willkommen und Abschied«. Sehr ergreifend.
»Ganz war mein Herz an deiner Seite/Und jeder Atemzug für dich.« Wer wünschte sich das nicht?
»In deinen Küssen welche Wonne!/ In deinem Auge welcher Schmerz!« Muss Liebe schön sein! Leider konnte sich Marie kaum mehr daran erinnern.
»Und doch, welch Glück, geliebt zu werden!/ Und lieben, Götter, welch ein Glück!« Nun wurde es ihr doch etwas wehmütig ums Herz. Wie musste sich eine Frau fühlen, der ein Mann solche Gedichte schrieb? Für Marie unvorstellbar. Sie musste sich ihre Liebesbriefe mühevoll selbst schreiben, und eine andere bekam derartige Kunstschätze einfach mal so präsentiert. Das Leben war ungerecht. SPEICHERN.
Schnell wischte sie die sentimentalen Gedanken beiseite und erfand als Absender einen jugendlichen Goethe-Liebhaber namens Wolfgang (wie sinnig), der in ein paar einleitenden Worten bekannte, er habe bei diesem in der Schule behandelten Gedicht sofort an Marie denken müssen. Das war für einen unbeholfenen Jüngling genug Liebeserklärung, fand Marie und steckte den Bogen abschließend in ein passendes Kuvert.
Dass es mit ein paar abgeschriebenen Dichter-Zeilen nicht getan war, war klar. Und ein Brief mehr machte
noch keine begehrenswerte Marie. WEITER. Um das Verfassen eigener Gedanken kam sie demnach nicht herum. Leider. Aber so ein perfekter Selbstmord verlangte eben auch Opfer. Sie musste sich schriftstellerisch betätigen, ob sie wollte oder nicht.
Nur Mut! Frisch gewagt ist halb gesülzt. Kasimir kam verwundert aus dem Schlafzimmer getrottet, als wollte er nachsehen, wo sein Frauchen so lange blieb. Er strich einige Male um Maries Beine und maunzte fordernd, bis sie sich von ihrem Projekt losriss und ihm die geforderten Streicheleinheiten zugestand. Doch auch als er sich längst wieder auf seinen Sessel verabschiedet hatte, blieb der Briefbogen leer. Marie hatte keine Ahnung, wie sie anfangen und was sie schreiben sollte.
Wieder stand sie auf und lief unruhig hin und her. Bewegung sollte angeblich gut für das Gehirn sein, wirkte sich aber offensichtlich nicht unmittelbar aus, denn die kreativen Gedanken ließen trotzdem auf sich warten. Einen kurzen Moment dachte sie darüber nach, ihre beste Freundin, Alma, anzurufen und um Hilfe zu bitten. Die war schließlich Redakteurin bei der »Süddeutschen Zeitung« und als solche prädestiniert für die ansprechende Verschriftlichung aller Arten von Gedanken. Doch wie hätte sie ihr ungewöhnliches Anliegen erklären sollen? Sie konnte schließlich nicht sagen, dass sie gerade dabei war, ihren Nachlass publikumswirksam zu fälschen. Zu dumm. VERWERFEN.
Nur um einmal angefangen zu haben, setzte Marie ein in wieder neu verstellter Schrift geschwungenes »Meine Liebste« an den oberen Papierrand und betrachtete es kritisch. Zu kitschig? Warum eigentlich? Verliebte waren manchmal so. Sie musste nur versuchen, sich etwas mehr
in diesen für sie schon sehr weit entfernten Zustand zu versetzen. Schwierig. Wann war sie das letzte Mal verliebt gewesen? Marie begann zu rechnen: Vor ziemlich genau acht Jahren hatte sie ihre erste Stelle als Systemadministratorin bei einem Münchner Pharmaunternehmen gekündigt. Der Grund war die Trennung von Lars, einem Arbeitskollegen, gewesen - ihre
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