Dann gute Nacht Marie
letzte Beziehung, die ganze achtzehn Monate gehalten hatte. Unglaublich! Acht Jahre! Kein Wunder, dass es ihr schwerfiel, zumindest vorstellungshalber in den Zustand des Verliebtseins zurückzufinden.
Also: »Meine Liebste« … Das konnte doch nicht so schwer sein. »Nach unserer unbeschreiblich schönen Nacht (lieber ein bisschen dicker auftragen) denke ich in jeder freien Minute an Dich.« Warum eigentlich nur in jeder freien Minute? Was war mit den anderen? Wenn schon, dann richtig. Wann war man schon mal in der äußerst komfortablen Situation, die Liebeserklärungen, die man bekam, steuern zu können? Marie zerknüllte den begonnenen Brief und setzte erneut oben auf einem leeren Bogen an: »Meine Liebste, nach unserer unbeschreiblich schönen Nacht denke ich Tag und Nacht an Dich! Ich sehe Dich vor mir, wie du …« Ja, wie eigentlich? EINFÜGEN.
Sie hatte keine Ahnung, was ein potenzieller Liebhaber an ihr hätte herausheben können. Und einfach das Blaue vom Himmel herunter zu erfinden war zu riskant und auch irgendwie unter ihrem Niveau, fand Marie. Also marschierte sie erst einmal ins Schlafzimmer vor den großen Spiegel, um eine ausführliche Bestandsaufnahme zu machen. Kasimir kam natürlich unverzüglich hinterher, froh über wenigstens etwas Bewegung an diesem
für seinen Geschmack eher langweiligen Samstag. Er postierte sich neben seinem Frauchen und versuchte kurz mit seinem Spiegelbild Kontakt aufzunehmen. Als sein wiederholtes Miauen jedoch ohne Antwort blieb, schlich er gelangweilt ins Wohnzimmer zurück und ließ Marie mit ihrer Selbstanalyse allein. Typisch Mann.
Oberschenkel zu dick, Bäuchlein zu groß, Hüften sehr breit und schon die ersten Falten im Gesicht - nicht gerade die beste Ausgangssituation, um einen imaginären Verliebten zu Begeisterungsstürmen hinzureißen. Marie wollte ihren Beobachtungsposten vor dem Spiegel schon wieder frustriert verlassen, da entdeckte sie, dass ihr die kleinen Fältchen um den Mund eigentlich eher eine besondere Note gaben, als dass sie sie alt und verbraucht wirken ließen. Zur Probe lächelte sie ihrem Spiegelbild einmal kurz zu und musste zugeben, dass Kasimir recht hatte: Durch einen kontaktfreudigen Gesichtsausdruck konnte das Aussehen noch gewinnen. SPEICHERN.
Nun gut, die dunklen, schulterlang gewellten Haare, die sie meist zu einem lockeren Knoten zusammengebunden trug, konnten sich durchaus auch sehen lassen. Ein paar herausgerutschte Strähnchen umspielten ihr Gesicht, was ihr ein wenig das strenge Aussehen nahm. Auch das konnte man sicher in einem Liebesbrief ganz gut verwerten. Die braunen Augen waren okay, die Nase ein bisschen nach unten gezogen, der Mund hingegen wieder gut proportioniert. Und die Sommersprossen gaben ihrem Gesicht fast etwas Charmant-Witziges. Ergebnis: Kopf recht hübsch, Oberkörper in Ordnung, Beine verbesserungswürdig. Alles in allem gar keine so schlechte Bilanz, fand Marie jetzt doch und setzte sich wieder an ihren bereits begonnenen Liebesbrief. Der unbekannte
Verehrer, dem sie schließlich den Namen Thomas gab (je normaler, desto unauffälliger), schwärmte nun ausführlich von ihren süßen Fältchen und den vorwitzigen Strähnchen, die ihr immer wieder ins Gesicht fielen.
In einem nächsten Brief durfte ebendieser Thomas die netten Sommersprossen und die liebenswerte Mimik loben, um schließlich zu ihrer herzlichen und humorvollen Art zu kommen. Je länger sie schrieb, desto kreativer flossen die Liebesgeständnisse aus Maries Schulfüller, der sich je nach Absender ein völlig neues Schriftbild anzueignen schien. Langsam bekam sie Routine in der Erschaffung immer anderer Schriftzüge, sodass sie kurz überlegte, eventuell gleich noch ein paar Zeugnisse oder Studienscheine zu fälschen. Auch die hätten durchaus ein paar Verbesserungen vertragen können. Da aber Aufwand und Risiko in diesem Fall ungleich höher und ohnehin noch genügend zu tun war, verwarf Marie den Gedanken und konzentrierte sich wieder ganz auf ihre momentane Aufgabe. Sie erfand einen traumhaften Italien-Urlaub mit einem Holger, schuf aufregende Biking-Touren mit einem Christian und erdachte romantische Abende mit einem Frank, die alle in einem oder mehreren Liebesbriefen an sie Erwähnung fanden. Und alle begeisterten sich für eine Marie, die sie bis heute selbst nicht gekannt hatte, nach eingehendem Studium jetzt aber direkt ein wenig mochte. BEENDEN.
In den letzten Jahren hatte sie außer zu Alma und ein paar Arbeitskolleginnen zu so
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