Dann gute Nacht Marie
Vergangenheit, wie den ersten Platz im Brustschwimmen beim Schulsportfest und den Jahresabschluss als Jahrgangsbeste in der neunten Klasse, mit bunten Klebezetteln, auf die sie Notizen schrieb, als habe sie diese schon damals zur Hervorhebung guter Leistungen dort angebracht. EINFÜGEN. Am Ende des Buches fand sie einige leere Seiten, die sie zum Anlass nahm, eine weitere Episode an diesen, wie sie fand, äußerst langweiligen Abschnitt ihres Lebens anzufügen. Allmählich begann es, ihr richtig Spaß zu machen, Teile ihres Lebens nach ihren Wünschen neu zu erfinden.
Marie holte sich ein Glas Wasser aus der Küche und zückte ihren Schulfüller, der ihr schon bei ihrer Liebesbriefpoesie gute Dienste erwiesen hatte. »Die fünfzehnjährige Marie reißt aus«, setzte sie sich gedanklich als Thema für die zu erfindende Episode. Dass sie das nie getan hatte, wussten schließlich nur die Eltern genau, und die würden beim Lesen sicher stolz und allenfalls etwas amüsiert über die blühende Fantasie ihrer heranwachsenden Tochter sein. Doch leider fiel es ihr wesentlich schwerer, die Sprache einer Fünfzehnjährigen nachzuahmen als ihre Jugendschrift. Um sich etwas hineinzufinden, las Marie erst noch einmal einige Passagen, die schöne und weniger angenehme Erinnerungen wach werden ließen. Die Worte wollten sorgsam gewählt sein, allzu viele leere Seiten waren nicht vorhanden.
»Heute habe ich mich schrecklich mit Mama und Papa gezofft … SUCHEN …, weil sie meinen, dass ich nicht so viel Zeit fürs Fotografieren vergeuden soll, sondern
lieber lernen.« Das war noch nicht gelogen, über das Thema gab es zu der Zeit öfter Streit. »Da habe ich meinen Rucksack gepackt und die Haushaltskasse geplündert.« Eine solche hatte es zwar in der Familie Hartmann nie gegeben, doch wer außer den Eltern wusste das schon? Nun der Weg zum Bahnhof … Nein, besser: »Als es dunkel war, bin ich aus dem Fenster von meinem Zimmer gestiegen und habe mich auf den Weg zum Bahnhof gemacht.« Und wohin wollte sie fahren? SUCHEN … nur jetzt keinen Fehler machen.
Marie holte ihren alten Schulatlas aus dem Schrank auf der Suche nach einem geeigneten repräsentativen Reiseziel. Nach Inaugenscheinnahme verschiedener Karten entschied sie sich für Mailand. EINFÜGEN. »Ich habe einfach den Zug nach Mailand genommen, weil der der nächste war. Jetzt sind wir schon in Österreich, und ich weiß noch nicht, wohin die Reise gehen wird.« So etwas kam immer gut. Marie als spontane, risikofreudige Weltenbummlerin. Sehr schön. Erneuter Blick in die Karte. Dann machte sie einen deutlichen Absatz, der zeigen sollte, dass inzwischen ein Großteil der Fahrt vergangen war. »Jetzt bin ich in Verona und habe einen gut aussehenden jungen Italiener namens Mario kennengelernt. Papa würde er nicht gefallen, aber dem gefällt ja nie einer.« Auch das kam gut. Väter mussten eifersüchtig auf die Freunde ihrer Töchter sein, auch wenn Gustav Hartmann das nie gewesen war.
Die gemeinsame Zeit mit Mario in Verona schmückte Marie so weit wie möglich aus. Sie schrieb über seine lustige Art, sein gutes Aussehen und vor allem über seine Bitte an Marie, mit ihm nach Deutschland zu fahren, wo er zuvor noch nie gewesen war. Jetzt hätte sie gerne noch
einiges mehr über den Italiener geschrieben und ihre gemeinsame Zeit in Deutschland, doch die freien Seiten waren fast gefüllt, und das Ende der Geschichte musste natürlich den Freudentränen der Eltern bei ihrer Rückkunft gehören. Nach kurzem Nachdenken entschied sich Marie für einen Streit. Wie sonst sollte sie erklären, dass Mario sang- und klanglos von der Bildfläche verschwand und auch später nie mehr in ihren Tagebüchern erwähnt wurde? SUCHEN … Da sie selbst in den letzten Jahren kaum noch gestritten hatte - kein Partner, kein Kontakt zu den Eltern, im Büro nur kommunikationsunfähige Kollegen -, fiel ihr auch das nicht ganz leicht. Komisch, dass sie das in diesem Moment bedauerte, aber schließlich konnten auch Konflikte ein Leben interessanter machen. Doch zurück zu Mario - für Daseinsphilosophien war jetzt keine Zeit. Natürlich musste diese Auseinandersetzung so verlaufen, dass Marie eindeutig im Recht war. Alles andere wäre äußerst kontraproduktiv gewesen. Vielleicht war er zudringlich geworden, hatte den italienischen Macho raushängen lassen oder auch eine andere angebaggert. Marie entschied sich für den Macho. Gut gelaunt schrieb sie Mario ein paar üble Angebersprüche zu: »Kaum
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