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Dann gute Nacht Marie

Titel: Dann gute Nacht Marie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Becker
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schlabberte er seine Geflügelpastete und rollte sich danach auf dem Wohnzimmersessel zusammen. Was Kasimir betraf, war posthume Zuneigung hoffentlich gewährleistet.
    Bei der Durchsicht des rosa Tagebuchs wurde Marie sehr schnell klar, dass dieses Schriftstück für ihre Imagepflege recht unerheblich war. EIGENSCHAFTEN. In der Hauptsache waren darin Berichte über schulische Erfolge oder Misserfolge verzeichnet (die Seite mit der Klage über eine Sechs in Latein trennte sie vorsichtshalber sorgfältig mit einem scharfen Messer heraus) und zahlreiche Jugendschwärmereien beschrieben. Ging es dabei zunächst um die verschiedensten Film- und Rockstars, so befanden sich die Objekte der Begierde ein Jahr später schon in den höheren Klassen der eigenen Schule. Dagegen war ja nun nichts zu sagen, fand Marie und verschonte den Großteil ihrer (un)poetischen Ergüsse vor radikaler Vernichtung.

    Ein Kapitel am Ende fiel aber doch noch der Zensur zum Opfer. Wie hatte sie diesen Vorfall nur vergessen können, der wohl zu den peinlichsten ihres Lebens zählte. Beim Durchlesen ihres detaillierten Berichts kam die Erinnerung sofort umso unmittelbarer zurück. ANSICHT. Marie meinte, wie damals zu fühlen, wie ihr die Röte ins Gesicht schoss, als Felix in der siebten Klasse zur allgemeinen Belustigung ihren Liebesbrief zum Besten gegeben hatte. Die Mitschüler hatten vor Lachen gebrüllt, und Marie wäre am liebsten im Erdboden versunken.
    »Oh, ich finde dich echt toll!« Felix hatte sich seinen Pullover wie ein Kopftuch umgebunden und verzückt die Augen gen Himmel verdreht, während er mit gespitzten Lippen Maries Stimme nachzuahmen versucht hatte.
    »Du gemeiner Kerl!« Mit Tränen in den Augen war Marie nach vorne gestürzt, um ihm den Brief zu entreißen und wenigstens Schlimmeres zu verhindern.
    Doch so war es nur noch schlimmer gekommen. Auf halbem Weg Richtung Lehrerpult, wo Felix langsam zur Hochform auflief, stolperte sie über eine am Boden abgestellte Schultasche und ergriff haltsuchend ausgerechnet eine Latte des Bastelregals, was einen dort aufbewahrten Topf mit Farbe für das Klassenprojekt zu Fall brachte. Etwa fünf Liter fliederfarbene Dispersionsfarbe ergossen sich über Marie, die am Regal hing und zum Glück nicht in die Gesichter ihrer Klassenkameraden schauen konnte. Halbblind stürzte sie aus der Klasse und nach Hause. Dass sie dabei eine nicht zu übersehende fliederfarbene Spur hinter sich herzog, machte die Schmach in den darauffolgenden Tagen nicht geringer.
    Schnell hatte sich herumgesprochen, wer für die unfreiwillige Koloration des Schulbodens verantwortlich gewesen
war. Marie wäre in den nächsten Tagen am liebsten zu Hause geblieben, aber ihre Mutter hatte es nicht erlaubt. So musste sie die Witze und Spötteleien der Schüler und Lehrer über sich ergehen lassen und konnte sich nur abends ihrem Tagebuch anvertrauen. Beim Lesen war Marie fast etwas überrascht und stolz, wie lange sie damals offensichtlich die Demütigungen geduldig ertragen hatte. Einen Monat, in dem immer wieder von jenem Vorfall die Rede war, trennte Marie nun sorgfältig und ohne Rückstände aus ihrem Tagebuch. WOLLEN SIE DAS DOKUMENT WIRKLICH IN DEN PAPIERKORB VERSCHIEBEN? JA. ENTER.
    Damit war der erste Teil der Tagebuchzensur erledigt. SCHLIESSEN. Marie verschloss das rosa Buch und klebte den kleinen Schlüssel wieder gewissenhaft an seinen Platz. Der zweite Band der Hartmannschen Biografischen Schriften war weder mit Ornamenten noch mit Vorhängeschloss versehen. Marie hielt ein schmales rotes Notizbuch in ihren Händen und erinnerte sich noch gut, wie sie es in einem kleinen Schreibwarenladen gekauft hatte. Es enthielt Einträge bis zur neunten Klasse. Weitere Schwärmereien, die ersten Freunde. Hier durften Günther und Jörg bleiben, nur die leidige Angelegenheit mit Jörgs Fußballerqualitäten hatte der Zensur zu weichen. VERWERFEN. Auf einer freien Seitenhälfte an dieser Stelle fügte Marie unter Aufbietung ihres neu erworbenen Kalligrafiekönnens eine völlig neue Version der Trennungsgeschichte ein: Jörg hatte eine andere geküsst und sie mehrere Tage ununterbrochen geheult. Nicht sehr originell, aber glaubwürdig und nachvollziehbar. Im Gegensatz zur unschönen Wahrheit.
    Die Lektüre des nächsten Teils gestaltete sich eher trocken.
Schulerlebnisse, Auseinandersetzungen mit den Eltern, die Zeit im Schwimmverein. Um den Inhalt etwas interessanter zu gestalten, versah Marie einige herausragende Erfolge ihrer

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