Dann gute Nacht Marie
nach der Trennung von Ben in einem unbeobachteten Augenblick vom Schwarzen Brett der Fakultät abgenommen und sorgsam in ihrer Mappe verstaut hatte: »Die Krise der Informatik als Ausdruck der Krise der Produktivkraftentwicklung - Vortrag von Ben Bergemann im Audimax«. Der Vortrag war am Tag darauf Gesprächsthema Nummer eins in der Fakultät gewesen. Marie war eine von ganz wenigen, die ihn nicht gehört hatten. Ben hatte wohl einen Sieg auf der ganzen Linie errungen. Seine Forschungsergebnisse hatten sogar die Professoren beeindruckt, der Text war wenig später in einer der bedeutendsten Informatik-Zeitschriften veröffentlicht worden.
Um wenigstens im Nachhinein ein bisschen von Bens Lorbeeren zu profitieren, begann Marie, das abgegriffene Plakat an den freien Stellen mit handschriftlichen Notizen zu versehen. Allgemeine Informatik-Inhalte, zu mehr reichten ihre theoretischen Kenntnisse schon seit Langem nicht mehr aus. Wer auch immer es nach ihrem Tod
in die Finger bekam, er würde die Dimensionen sowieso nicht verstehen. Marie betrachtete ihr Gekritzel zufrieden und faltete das Blatt wieder in den bestehenden Kanten. ANSICHT SCHLIESSEN. Nun sah es für jeden Außenstehenden so aus, als hätte sie den Vortrag gehört und auch verstanden. Was sie zum damaligen Zeitpunkt auch mühelos gekonnt hätte, dessen war sich Marie sicher.
Nachdem die Bearbeitung der eigenen Biografie mehr Zeit in Anspruch nahm, als Marie gedacht hätte, unterbrach sie an dieser Stelle die Zensur, um sich gegen Ende des Tages noch etwas mit ihrem Lebensende zu beschäftigen. Sie bereitete sich ein Abendbrot aus den kümmerlichen Resten, die der Kühlschrank hergab, und setzte sich an ihren Laptop. LOGIN. Weil die Recherche in der Nacht zuvor kein zufriedenstellendes Ergebnis gebracht hatte, versuchte Marie es heute mit einer neuen Herangehensweise.
Auf verschiedenen Internetseiten über berühmte Suizidfälle in Literatur und Geschichte informierte sie sich ausführlich darüber, wie andere vor ihr dieses Problem gelöst hatten. Bei Romeo und Julia bekam sie erstmals eine Ahnung, bei Ferdinand und Luise bestätigte sich der Verdacht, und bei Madame Bovary war sich Marie sicher: Der richtige Weg ins Jenseits war Gift. SPEICHERN. Natürlich meinte sie damit nicht so profane Vergiftungsmethoden wie Schlaftabletten oder Autoabgase. Nein, sie musste ein ausgefallenes, teures Gift finden, das nur schwer zu bekommen war.
Froh, einen weiteren Schritt vorangekommen zu sein, warf Marie Kasimir, der sich wieder einmal auf dem Wohnzimmersessel zusammengerollt hatte, einen Beifall heischenden Blick zu. Doch Anerkennung war von dieser
Seite nicht zu erwarten. Der Kater schnarchte leicht und nahm von den Erfolgen seines Frauchens keine Notiz. Vielleicht auch besser so, sonst wären ihm womöglich die Auswirkungen auf seinen Verbleib zu früh klar geworden. Und diesbezüglich konnte Marie sicher auf keinerlei Anerkennung hoffen.
Sie öffnete nun die unterschiedlichsten Internetseiten aus den Bereichen Medizin und Chemie und fütterte verschiedene Suchmaschinen mit höchst giftigen Fragestellungen. SUCHEN … Auch hier taten sich unerwartete Schwierigkeiten auf. Ohne chemische oder medizinische Fachkenntnisse waren die Inhalte nur schwer auf das Wesentliche und in diesem Fall Nützliche zu reduzieren. Marie hatte sich ihren Selbstmord deutlich einfacher vorgestellt. Allerdings musste sie zugeben, dass sie es durchaus einfacher hätte haben können. Wer kam schon auf die Idee, sein Ende derart minutiös zu planen? Bei diesem Gedanken überfiel Marie ein leichtes Bedauern, dass ihre Bemühungen bezüglich ihres Todes niemals honoriert werden würden. Schließlich gab sie sich alle Mühe, jegliche Manipulation der Hinterlassenschaften nicht offenkundig werden zu lassen. Schade. Aber für den Erfolg der Aktion dringend notwendig. UNTERSTREICHEN.
Eigenrecherche schien also in diesem Fall nicht zum Ziel zu führen. Ein Experte musste her.
Doch nicht mehr in dieser Nacht. ZWISCHENABLAGE. Morgen war wieder ein Arbeitstag, mit dem Marie vor Beginn des Wochenendes nicht mehr hatte rechnen können. Nun, da sich das Unternehmen »Lebensende« bis auf Weiteres verzögerte, musste sie morgen wohl oder übel noch einmal an ihren Arbeitsplatz zurückkehren, der in letzter Zeit leider allzu oft nur Routinearbeiten
zu bieten hatte. Dafür benötigte sie allerdings auch etwas Schlaf, sodass sie wohl nicht wieder die gesamte Nacht am Laptop verbringen konnte. Schweren
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