Dann gute Nacht Marie
waren wir über der deutschen Grenze, musste ich ständig seine Tasche tragen und ihm Kaffee holen. Er meinte, dass er ja schließlich auch die Verantwortung tragen würde. Frauen könnten das nämlich nicht. Die wären besser ›assistente‹. Zum Dank für den Kaffee nannte er mich dann immer herablassend ›brava‹ und tätschelte mir die Wange. Das war zu viel für mich!« Jetzt noch ein guter Konter von Marie, und Mario war Geschichte. ABSCHLIESSEN.
Äußerst zufrieden mit ihrem Werk, klappte Marie das Buch zu und beschloss, eine kleine Pause im kreativen Schaffensprozess einzulegen. Sie zog sich ihre Wolljacke und einen dazu passenden Schal an, schnappte sich ihren Schlüssel und verließ das Haus, um einen Spaziergang zu machen. Einige Straßen weiter bog sie ab und nahm die Treppe hinab zu den Isarauen, wo an einem derart sonnigen Herbstsonntag allerlei Radfahrer, Jogger und spazierende Paare und Familien unterwegs waren. Etwas einsam kam sich Marie schon vor in so einem bunten Treiben diverser sonnen- und bewegungshungriger Mitmenschen. An solchen Tagen wünschte sie sich manchmal, sie hätte sich vor drei Jahren anstelle von Kasimir einen Hund zugelegt. Den hätte sie nun wenigstens Gassi führen können. So jedoch wanderte sie allein unter Grüppchen die Isar entlang und tat Kasimir im Stillen Abbitte für ihre selbstsüchtigen Gedanken.
Nach etwa einer Stunde Spaziergang durch grüne Wiesen und bunten Herbstwald kehrte Marie, trotz strahlendem Sonnenschein etwas durchgefroren, in die Münchner Straßen zurück, wo sie den kürzesten Weg zu ihrem Wohnhaus einschlug. Eine Querstraße vor dem Ziel bemerkte sie plötzlich einen nicht zu überhörenden, heftigen Wortwechsel hinter einem geöffneten Fenster.
»Immer muss es nach deinem Kopf gehen!«, keifte eine Frauenstimme. »Wenigstens am Sonntag könntest du mich ein Mal unterstützen!«
Der offensichtlich dazugehörige Mann gab nicht minder lautstark zurück: » Du bist es doch, die ständig vor der Glotze hockt!«
»Ich? Zwischen deinen ganzen Sportsendungen bleibt doch kaum Platz für ein anständiges Programm!«
»Und jetzt würde ich nur gerne die Nachrichten sehen!«
»Nachrichten? Dass ich nicht lache!«
Marie blieb direkt unter dem Fenster im zweiten Stock stehen und lauschte einige Minuten dem sinnlosen Streit des Ehepaares. ZOOM. In dieser Hinsicht hatte sie mit ihrer »Beziehung« Glück gehabt. Mit Kasimir konnte man nicht streiten. Er war immer da und widersprach selten. Wenn er regelmäßig seine Streicheleinheiten bekam, die er immerhin - im Gegensatz zu den meisten Männern - recht eindeutig einforderte, war er ein treuer Lebensgefährte. Er konnte einem wenigstens ein bisschen das Gefühl vermitteln, gebraucht zu werden. Und das Fernsehprogramm interessierte ihn auch nicht. Bei dem Gedanken an ihren Kater bekam Marie plötzlich einen Schreck. Was wurde aus Kasimir, wenn sie ihre Lebenszensur erfolgreich abgeschlossen hatte? Da tat sich ein weiterer Punkt auf der To-do-Liste auf, an den sie bis jetzt noch gar nicht gedacht hatte. SPEICHERN.
Im Zuge der verschiedensten Unternehmungen war es fast unbemerkt Abend geworden. Dass allein verbrachte Zeit wie im Flug vergehen konnte, war für Marie ganz ungewohnt. Fast fürchtete sie, mit ihrer Tagebuchzensur in Verzug zu geraten. Andererseits drängte sie schließlich niemand. Ob sie nun heute, morgen oder in einer Woche ihrem Leben ein Ende setzte, war nicht wichtig. Wichtiger war, dass ihr Tod und die Zeit danach sorgsam vorbereitet waren.
Mit Feuereifer, einer frischen Kanne Tee und einer Tafel Zartbitter-Schokolade machte sich Marie wenig später wieder ans Werk. Die nächsten beiden Tagebücher waren einfache Schreibhefte, die ihre Studienzeit beinhalteten. Zehn Semester Informatikstudium in München. Davon
die ersten drei Jahre an der Seite von Ben Bergemann, dem »Manager des Jahres«.
Während Marie ihre Aufzeichnungen aus jener Zeit akribisch nach Schönheitsfehlern durchforstete, wurde ihr klar, wie glücklich sie mit Ben und wie unglücklich sie ohne ihn gewesen war. Kurzerhand verkürzte sie die damalige Leidenszeit um einige Wochen, indem sie etwa die Hälfte ihrer Klageschriften heraustrennte und in den Papierkorb wandern ließ. VERWERFEN. Ein gefaltetes DIN-A4-Blatt dagegen, das im hinteren Teil des Heftes zwischen den Seiten steckte, behandelte sie mit weitaus mehr Sorgfalt.
ANSICHT. Sehr gut erinnerte sie sich beim Anblick des Plakats daran, wie sie es damals kurz
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