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Dann gute Nacht Marie

Titel: Dann gute Nacht Marie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Becker
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der Hauptsache unscharf, verwackelt oder halb von einem vorwitzigen Finger verdeckt. Papierkorb.
    Die nächste Bildergeneration zeigte Klassenkameraden, Schulveranstaltungen und Familienmitglieder. Wenig informativ, lange her. Ein paar ausgewählte durften bleiben, der Rest wurde entsorgt. VERWERFEN.
    Dann kam eine ganz schlechte Phase. Als Marie die Fotos ihrer Pubertät in der Hand hielt, musste sie fast lachen. Die toupierte Frisur, die schrill-bunten Klamotten, geschminkt bis an die Haarspitzen, unmöglich. Eine Periode der totalen Geschmacksverirrung: Papierkorb. Wenn das so weiterging, konnte sie am Ende das Album ihrer Verdienste nur mit einer Handvoll Fotos füllen.
    Aber mit der Kollegstufenzeit näherte sich die Dokumentation endlich einer optisch vertretbareren Richtung. Aus dieser Zeit gab es einige Bilder, die sofort ins Töpfchen wandern durften: eine Oberstufen-Party (bei der sie mit verschiedenen Jungs abgelichtet war), ein Schulkonzert (bei dem sie ein Solo auf der Geige spielen durfte), ein Urlaub am Meer (bei dem sie sich zum ersten und einzigen Mal auf dem Surfbrett versucht hatte). SPEICHERN.
    Marie hielt ein Foto in der Hand, auf dem sie in einem hautengen Neopren-Anzug und mit gebräuntem Gesicht in die Kamera blinzelte, sich mit der einen Hand die nassen Haare aus dem Gesicht strich und mit der anderen das Surfbrett stützte. Marie Hartmann, die gut aussehende,
sportliche, unabhängige, moderne junge Frau, die das ganze Leben noch vor sich hatte und auch viel davon erwartete. Wenn sie damals gewusst hätte, dass es schon mit Mitte dreißig zu Ende sein würde …
    Warum sie damals mit dem Surfen nicht weitergemacht hatte, wusste Marie heute auch nicht mehr. Schließlich hatte es ihr sehr viel Spaß gemacht. Wahrscheinlich hatte es zu wenige Urlaube am Meer gegeben, die eine Fortführung des Trainings ermöglicht hätten. Ein äußerst vorteilhaftes Bild jedenfalls, das in jedem Fall einen prominenten Platz im Album verdient hatte. SPEICHERN.
    Das nächste Foto, das inmitten seiner zahlreichen Kollegen Maries Aufmerksamkeit erregte, war das Schwarz-Weiß-Foto eines gut aussehenden jungen Mannes. Ein Porträt. Offensichtlich von einem professionellen Fotografen gemacht. ZOOM. Auch nach längerem, konzentriertem Nachdenken hatte Marie immer noch keinen blassen Schimmer, um wen es sich bei dem schönen Unbekannten handelte, der sich scheinbar unbemerkt in ihre Fotokiste verirrt hatte. Weder die Rückseite des Bildes noch andere Aufnahmen gaben Aufschluss über seine temporäre oder geografische Herkunft. Er war auf keinem Klassen- oder Studienfoto. Auf Urlaubsfotos? Fehlanzeige.
    Schon begann Marie an ihrer Zurechnungsfähigkeit und ihrem Erinnerungsvermögen zu zweifeln. Mit Mitte dreißig! Da war es wirklich besser, rechtzeitig, bei vollem Bewusstsein aus dem Leben zu scheiden. SPEICHERN.
    Zum Glück klingelte in diesem Moment das Telefon. Sosehr Marie abendliche Störungen hasste, so froh war sie in diesem Augenblick, aus ihren düsteren Gedanken
gerissen zu werden. Das änderte sich allerdings sofort wieder, als ihr vom anderen Ende ein mütterliches »Hallo!« entgegenschrillte. »Von dir hört man ja gar nichts! Was gibt es Neues?« folgte wie üblich auf dem Fuße.
    »Wieso? Wir haben doch erst vor ein paar Tagen telefoniert«, gab Marie patzig zurück. Ihre Mutter schaffte es bei jedem Telefonat, ihre Laune schon vor Beginn des eigentlichen Gesprächs in den Keller sinken zu lassen. TON AUS. Marie wusste schließlich auch allein, dass sie in ihrem Leben leider nicht das erreicht hatte, was sie (und vermutlich auch die Eltern) sich erhofft hatte.
    Wie immer ließ Marie sich auf keinerlei Berichte aus ihrem Lebensalltag ein - die größte Neuigkeit, das nahe Ende und die Vorbereitungen dafür, musste sie sowieso für sich behalten. Also fragte sie möglichst neutral: »Und? Was gibt’s?«
    »Der Papa und ich wollen uns einen Fotoapparat kaufen.« War die beim letzten Telefonat anvisierte Computeranschaffung schon getätigt, oder hatte man etwa umdisponiert oder einfach Langeweile?
    Marie bekam kurz ein schlechtes Gewissen, weil sie diesbezüglich noch nichts unternommen hatte, und schluckte ihre bösen Kommentare hinunter: »Und warum fragst du da ausgerechnet mich?«
    »Na, du hast doch damals dieses Praktikum bei dem Fotografen gemacht. Da hast du doch hoffentlich ein bisschen was gelernt!«
    In diesem Moment meldete sich Maries Erinnerungsvermögen schlagartig in voller Größe und

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