Dann gute Nacht Marie
Schönheit zurück. Das Praktikum bei Uhlenhorst. Drei Monate hatte sie nach dem Abitur in seinem Fotoatelier gearbeitet. Damals noch in der Hoffnung, die Eltern würden danach
die ersehnte Fotoausrüstung finanzieren. Doch Gustav und Monika Hartmann hatten das Ganze unter dem Gesichtspunkt »Hörner abstoßen« eingeordnet und nach den drei Monaten bei Uhlenhorst ihr geliebtes Hobby weiterhin nicht ernst genommen.
»Bist du noch dran?« Die sich offensichtlich im Konsumrausch befindliche Mutter wurde aufgrund mangelnder Kommunikation am anderen Ende der Leitung ungeduldig.
Marie hatte vor lauter Erinnerungsvermögen ihr Telefonat vergessen. WIEDERHERSTELLEN. »Ja, ja … Ich denk mal drüber nach.«
»Dank dir. Und melde dich mal, ja?!«
Zurück bei ihrem Fotoberg betrachtete sie das Bild des Unbekannten noch einmal eingehend und war sich plötzlich sicher: Die Aufnahme hatte sie während des Praktikums aus Uhlenhorsts Labor mitgenommen, weil ihr der junge Mann darauf so gut gefallen hatte. Jetzt erinnerte sie sich auch wieder genau daran, wie der Fotograf verzweifelt das vierte der bestellten Porträts gesucht und schließlich erneut einen Abzug hergestellt hatte. Marie war damals begierig gewesen, diesen jungen Mann zu treffen und hatte Tag für Tag darauf gewartet, dass er die Porträts abholen würde. Doch leider war es nie dazu gekommen. Vermutlich war ihr Praktikum beendet gewesen, bevor der Unbekannte bereit für eine Begegnung war.
Jetzt, nach ziemlich genau sechzehn Jahren unbeachteten Lagerns in einer Fotokiste, konnte ihr sein Bild aber doch noch von Nutzen sein. In Maries Fotoalbum der Lebens-Highlights bekam der attraktive Fremde eine ganze Seite für sich allein und im gleichen Arbeitsgang
auch gleich Namen und Identität. SPEICHERN UNTER … DAVID. Mit der jugendlichsten Schrift, die ihr nicht mehr ganz so jugendliches Handgelenk hergab, beschriftete Marie das vorteilhafte Konterfei mit einem für sie noch vorteilhafteren Kommentar: »David - Zur Erinnerung an die schönsten drei Monate meines Lebens«. Irgendwie war das nicht einmal gelogen. Das Praktikum bei Uhlenhorst zählte wirklich zu den schönsten Monaten ihres Lebens, auch wenn der gut aussehende Unbekannte darin eine eher untergeordnete Rolle gespielt hatte. So wollte und konnte Marie ihm auch keinen größeren Raum in ihrem Leben zugestehen. Schließlich hätten die Familie und Freunde von damals von einer längeren Beziehung zu dem geheimnisvollen David irgendetwas mitbekommen müssen. Die Lebenszensur musste bei aller Ereignis-Kosmetik natürlich glaubwürdig bleiben.
Auch Ben erhielt, im Gegensatz zu David ganz legal, einen Platz in Maries Album. Sorgfältig wählte sie die hübschesten Bilder aus, jeder unrasierte und schlecht getroffene Ben wanderte geradewegs in den Papierkorb. LÖSCHEN. Einen kurzen Moment fand Marie sich schrecklich oberflächlich. Noch nie hatte sie Menschen gemocht, die nur auf Äußerlichkeiten und Erfolge Wert legten, und nun war sie selbst eine von ihnen. RÜCKGÄNGIG? Doch jetzt, kurz vor Ende des eigenen Lebens, war nicht mehr die Zeit, die Welt zu verändern. Jetzt ging es einzig und allein um Schadensbegrenzung in der Lebensrückschau. Die Welt war oberflächlich. Also sollte sie auch so behandelt werden. PAPIERKORB LEEREN. OK.
Als Marie wenig später das fertige Album durchblätterte, war sie mit ihrer Arbeit sehr zufrieden. Aufgrund radikalen Aussortierens bestach der Inhalt des Albums durch
Qualität statt Quantität, was den Gesamteindruck erheblich verbesserte. In ihrer Euphorie beschloss Marie, die momentane Energie zu nutzen und gleich mit der noch lange nicht abgeschlossenen Lebenszensur fortzufahren. Außer den Büchern und CDs, auf die sie jetzt gar keine Lust hatte, blieb in der Hartmannschen Medienabteilung noch die durchaus beachtliche Video- und DVD-Sammlung zu sichten. GEHE ZU … Sie war, je nach Grad der Öffentlichkeitswirksamkeit, an unterschiedlichen Stellen in der Wohnung untergebracht.
Intellektuell bedeutsame Filme wie die Fellini-DVD-Box und einige Filme von Regisseuren wie Truffaut, Kubrick oder Hitchcock standen im Bücherregal des Wohnzimmers. Sie durften unbesehen und ausnahmslos bleiben. SPEICHERN. Wen kümmerte es schon, dass Marie die Fellini-Box noch nie von innen und auch die anderen Filme höchstens zur Hälfte gesehen hatte? In der nächsten Kategorie war es schon schwieriger. Sie verbarg sich in der Wohnzimmerkommode neben dem Fernseher und beinhaltete Komödien
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