Dann gute Nacht Marie
Spaß gemacht. Um den Bericht möglichst perfekt vorlegen zu können, ließ sie sogar die Mittagspause ausfallen. Und so überreichte sie gegen fünf Uhr abends ihrem Chef freundlich lächelnd mehrere Mappen mit Trends, Statistiken und Dokumentationen. Schmidt bedankte sich knapp und zog eilig mit den Unterlagen in Richtung Konferenzraum ab. Und tschüs. ENTER.
Marie hingegen beschloss kurzerhand, dass sie sich den sofortigen Feierabend mehr als verdient hatte, packte zufrieden ihre Sachen in die Handtasche und verließ gleich darauf das Firmengelände.
Beschwingt lief sie die Straße entlang bis zu ihrer U-Bahn-Station, ließ sich von der Rolltreppe gemütlich ins Untergeschoss fahren und reihte sich in die Menge der am Bahnsteig Wartenden ein. Offensichtlich hatten die meisten Angestellten um diese Zeit Arbeitsschluss, für Marie dagegen war es ungewöhnlich früh. Noch nie
hatte sie sich nach dem Büro mit so vielen Menschen einen Bahnsteig geteilt. Abstand halten? Fehlanzeige. Als die U-Bahn eingefahren war, zwängte sie sich mit einem gefühlten Drittel der gesamten Weltbevölkerung in einen Waggon, um dann möglichst geschickt schwingenden Pferdeschwänzen, kantigen Aktenkoffern und gestreckten Ellenbogen auszuweichen. Einige Stationen und noch mehr unangenehme Körperkontakte weiter entstieg sie etwas genervt der überfüllten Bahn und rollte wieder an die Erdoberfläche.
Trotzdem taten die feierabendlichen Menschenmassen ihrer Gelassenheit keinerlei Abbruch. Schließlich hatte sie unverhofft einen langen freien Abend für ein weiteres Kapitel der Lebenszensur gewonnen. Marie schlenderte den Gehsteig entlang und durchforstete gedanklich ihre To-do-Liste nach einem Plan für die nächsten Stunden. In jedem Fall würde sie sich heute ihre Fotos zur Bearbeitung vornehmen. Da war sicher auch so einiges dabei, das wenig vorteilhaft war und zu viel Privates preisgab. Anderes dagegen konnte bestimmt auch zur Imageverbesserung genutzt werden.
Nachdem sie sich zu Hause etwas zu essen gemacht und es hungrig verspeist hatte (so ohne Mittagessen war auf Dauer auch nicht praktikabel, selbst wenn man kurz vor seinem Lebensende stand), versorgte Marie Kasimir mit Futter und frischem Wasser. Danach holte sie ihren Fotokarton aus dem Schrank und richtete sich damit auf ihrem Sofa häuslich ein. Halt, Tee vergessen! Noch einmal in die Küche. Vielleicht auch noch ein paar Kekse dazu? Schlanke Linie war für eine zukünftige Leiche schließlich kein wichtiges Kriterium. Ganz abgesehen davon, dass sich ihre Figur auch bei höchst unvernünftiger Nahrungsaufnahme
in den wenigen letzten Tagen nicht mehr so grundlegend ändern würde. FETT … SPEICHERN.
Mit Keksen, Tee und Wolldecke auf dem Sofa bekam die heutige Fotoaktion auch gleich eine ganz andere Qualität. Zufrieden kraulte Marie Kasimir, der sich auf den Rücken drehte und ihr die Hand leckte, und öffnete den Karton. Ein unübersichtlicher Haufen von Fotoabzügen ihrer unterschiedlichen Lebenslagen grinste ihr entgegen. In diesem Zustand waren die Bilder definitiv niemandem zu hinterlassen. Zu viele waren nicht für Jedermanns Augen bestimmt. In einem derart unorganisierten Durcheinander kamen außerdem die Highlights, die es sicher irgendwo in diesem Fotoberg gab, kaum zur Geltung. Vorgehensweise also wieder nach dem altbekannten Töpfchen-Kröpfchen-Prinzip. Was unvorteilhaft oder intim war oder schlicht niemanden etwas anging, würde in den Papierkorb wandern. Was sie, in welcher Form auch immer, in einem guten Licht erscheinen ließ, würde archiviert werden.
Bei der ersten Sondierung des gesamten Materials beschloss Marie, am Ende die zur Veröffentlichung freigegebenen Werke in einem Fotoalbum zusammenzustellen und entsprechend zu beschriften: »Mein erster Sieg im Turmspringen mit zehn Jahren«, »Ich als Schülersprecherin mit Leuten vom Kultusministerium«, »Mein erstes Motorrad«, »Unser Urlaub in Kalifornien« …
Die Bildunterschriften zogen bereits an ihrem inneren Auge vorbei. Nur schade, dass sie nichts davon erlebt hatte. Also musste sie aus dem Vorhandenen das Beste herausholen. Bei Liebesbriefen und Tagebüchern war ihr das schließlich auch gelungen. WIEDERHOLEN. Leider konnte man Fotos schlechter fälschen.
Mit zehn Jahren hatte Marie ihren ersten Fotoapparat geschenkt bekommen. Seitdem hatte sie mehrere Exemplare von der Pocket- bis zur Spiegelreflexkamera zugrunde gerichtet und einiges an Bildmaterial angehäuft.
Die ersten Fotos waren in
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