Dann gute Nacht Marie
Gesprächs mitbekommen und kann euch vielleicht helfen. Bei meinem Computer hatte ich vor einiger Zeit nämlich das gleiche Problem.« Während Elmar Sascha Tastenkombination und Befehle zur Lösung des Problems erklärte, dachte Marie darüber nach, dass sie bisher zu keinem der anderen Hausbewohner intensiveren Kontakt gehabt hatte als das übliche »Hallo« im Treppenhaus. Nur schade, dass sich das erst jetzt, so kurz vor ihrem Tod, änderte.
»Gehst du öfter in diese Kneipe, Marie? Ich hab dich hier noch nie gesehen.« Tja, dafür hätte sie schon wesentlich früher mal wieder auftauchen müssen …
Nachdem sie das Computerproblem zumindest theoretisch gelöst hatten, war Sascha so erleichtert, dass er für seine beiden Experten eine Runde Tequila spendierte. Marie sträubte sich zuerst, doch Elmar bestand darauf, ihr Kennenlernen offiziell zu begießen: »Endlich lerne ich mal jemanden aus diesem schrecklich anonymen Haus kennen. So viele junge Leute wohnen hier wohl nicht, oder?«
»Ehrlich gesagt habe ich noch keine gesehen. Wie lange wohnst du denn schon hier?«
»Seit etwas über einem Jahr. Und du?«
»Im Januar würden es sechs Jahre werden.«
»Warum würde? Willst du ausziehen?« Beinahe hätte sie sich verplappert. RÜCKGÄNGIG. »Nein, nein.«
»Gut. Ich dachte schon, meine erste Bekanntschaft in dieser Gegend macht sich gleich wieder aus dem Staub.« Einen kontaktarmen Eindruck machte Elmar nicht gerade, dachte Marie und versuchte, die Unterhaltung nicht zu verbindlich werden zu lassen: »Mal sehn. Manchmal ist man schneller weg, als man glaubt.« Die Doppeldeutigkeit dieser Aussage konnte Elmar natürlich nicht erkennen. Gut so. Sie selbst wusste zwar auch nicht genau, wie lange ihr Leben noch dauern würde, doch ob sie bei der recht üppigen To-do-Liste in der ihr verbleibenden Zeit noch neue Kontakte würde unterbringen können, war fraglich.
Für Elmar, den Studenten, war das Argument eines sehr stressigen Arbeitslebens stichhaltig genug, um ihn erst einmal zufriedenzustellen. Schließlich konnte er nicht wissen, dass Marie einen recht eng gesteckten Zeitplan für ihr nur noch sehr kurzes Restleben hatte. Nach zwei weiteren Hellen und einem anregenden Gespräch mit dem sympathischen Nachbarn verließ Marie um ein Uhr extrem gut gelaunt und zugegebenermaßen etwas angetrunken die Kneipe und ging beschwingt nach Hause. Bei Elmar verblieb sie mit einem unverbindlichen »Vielleicht sieht man sich mal wieder?«, was nur halb gelogen war. Eventuell würde das nächste Zusammentreffen auch darin bestehen, dass er zum Finder ihrer sterblichen Überreste auserkoren wurde - wer konnte das jetzt schon wissen? Im Wein liegt Wahrheit? Für Bier und Tequila galt diese Regel offensichtlich nicht.
Kasimir schnaufte unwillig, als sie, laut vor sich hin summend, die Wohnung betrat, seine Begrüßungsversuche
ignorierte und ihre Schuhe schwungvoll neben »seinen« Sessel schleuderte. Noch einmal nahm sie das vorhin fertiggestellte Fotoalbum in die Hand, schwelgte kurz in Erinnerungen an triumphale Schulkonzerte, ausgelassene Oberstufen-Partys, den einzigen Surf-Urlaub, Ben und den namenlosen David. Dann verstaute sie es sorgfältig in ihrem Bücherregal, wo man es früher oder später mit Sicherheit entsprechend würdigen würde. EINFÜGEN.
Das Regal würde einer der nächsten Zensurbereiche sein, denn auch Maries Lesestoff war nicht frei von einigen »Blindgängern«, die eliminiert werden mussten. Doch das konnte warten.
Zunächst fiel Marie, vom Alkohol leicht umnebelt, zufrieden und müde in ihr Bett und kurz darauf in einen traumlosen Schlaf, der sämtliche Zensurkriterien vorübergehend unwichtig werden ließ. SIE KÖNNEN DEN COMPUTER JETZT AUSSCHALTEN. ENTER.
7
DOKUMENT7. Obwohl sie vergleichsweise spät und alkoholisiert eingeschlafen war, erwachte Marie schon gegen sechs Uhr, lange bevor ihr Wecker geklingelt hätte, wenn sie in der Bierlaune der Nacht nicht sowieso vergessen hätte, ihn zu stellen. Ganz ohne jede Lust, sich noch einmal in die Kissen zu vergraben, stand sie sofort auf, duschte und kochte Kaffee. Mit der Tasse in der einen und einer Banane in der anderen Hand postierte sie sich vor ihrem Bücherregal, um noch vor dem Gang zur Arbeit die Zensur dort zu beginnen. Frühe Marie fängt den Wurm oder so ähnlich. COMPUTER NEU STARTEN. OK. Es ging leichter als erwartet. Verschiedene Fotobände berühmter Fotografen ins Töpfchen, Groschenromane und andere Schnulzen ins Kröpfchen.
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