"Dann iss halt was!": Meine Magersucht – wie ich gekämpft habe – wie ich überlebe (German Edition)
die Wangenknochen daraus hervorstechend wie etwas Lebendes, das das Gesicht verlassen will, weil es dort keinen Platz mehr zum Leben hat. Die Ärzte und Therapeuten konnten mir jeden Tag am Gesicht ablesen, dass sie noch viel Arbeit mit mir haben würden. Diese wackeren Kämpfer gegen magere Windmühlen. Immer wieder sagten mir unterschiedliche Experten in unterschiedlichen Tonarten zu unterschiedlichen Anlässen, dass sie es als die ungefähr viertbeste Idee empfänden, dass ich am 9. Juni gehen wolle. Zumindest sollte ich wiederkommen, nach dieser WM . Sie sagten: Selten hätten sie einen Mann hier gehabt mit einem niedrigeren BMI und einer so hohen Funktionsfähigkeit. Sie insistierten: »Herr Frommert, Sie spielen mit dem Tod.« Ich erwiderte: Deutschland spielt am 13. Juni gegen Australien. »Und außerdem hat da meine Mutter Geburtstag.« Die Entscheidung war längst gefallen.
Die Ärzte und Therapeuten hörten solche Geschichten wie meine jeden Tag, solche und schlimmere. Sie taten alles, um zu helfen, um diese halb- oder dreiviertelverhungerten, neurotischen, depressiven, gereizten Menschen zurück ins Leben zu holen, ihnen wieder eine einigermaßen normale Selbstwahrnehmung nahezubringen, ihnen ein einigermaßen ausreichendes Essverhalten anzutrainieren. Was sie ernteten, war nicht immer Gegenliebe. Auch deshalb ließen sie sich für meinen Geschmack nicht genügend ein. Herzlichkeit ist kein Mittel, das hier irgendwen zu heilen vermag. Aber manchmal dachte ich, sie hätten vielleicht mehr Erfolg, wenn sie einfach auf die Knie fallen würden und uns anbettelten, doch Endlich. Etwas. Mehr. Zu. Essen.
Die Krux ist: Jeder hier wusste, dass das nicht gesund war, was er da machte. Ich wusste auch damals vom Kopf her ziemlich genau, dass mein Körper von 50 Gramm Joghurt, ein bisschen Obst und literweise Flüssigkeit am Tag nicht auf Dauer leben kann. Der Punkt war und ist: Ich will das so. Ich will, dass mein Körper nur gerade so eben genug hat, um zu überleben. Weil ich nur so das absolut sichere Gefühl haben kann, dass mein Körper NICHT genug hat, um auch nur ein Gramm zuzunehmen. Das mit dem Überleben war mir dabei ehrlich gesagt lange Zeit gar nicht so wichtig. Ich hatte keine Angst vor dem Tod, weil ich ihn nicht spürte.
Die Therapeuten verdienen trotzdem oder gerade deswegen allen Respekt. Sie versuchten immerhin mit den Sitzungen, ihren Spielchen und Fragen gemeinsam mit uns herauszufinden, warum und woher das alles kommt, wie das vielleicht angefangen hat. Ehrlich gesagt half ich immer in erster Linie dabei, diese Fragen in Bezug auf andere zu beantworten. Richteten sie die Fragen an mich, wusste ich, was ich zu sagen hatte – ließ aber weder das Rätsel noch dessen Lösung oder zumindest eine Erklärung an mich heran.
Aber ich nahm diese Fragen mit, ich trug sie bald in mir wie unverdaute Nahrung. Ich konnte aus einer weiten emotionalen Ferne doch irgendwie nachvollziehen, dass ich sie mir stellen muss. Mich ihnen stellen muss. Die meisten Fragen bezogen sich – neben denen nach Essen, Zunehmen und Abnehmen – auf die Vergangenheit, auf Gefühle und deren Verletzungen.
»Hoppla«, dachte ich, »das ist doch mal eine einfache Übung.«
Denn wenn ich über verletzte Gefühle und Gewichtsfragen nachdenke, lande ich unweigerlich in meiner Schulzeit, in meiner Freizeit. Im »Zeitalter Gabi«.
Tisch für zwei
Die erste große Liebe –
das erste große Hungern
Können Sie sich vorstellen, dass ich mal so richtig fett war?
Wahrscheinlich nicht. Ich kann es ja selbst kaum glauben – und ich will auch nichts mehr davon hören. Denn meine Angst, fett zu werden, ist vor allem die Angst, wieder so fett zu werden wie damals. Und jedes Gramm mehr bringt mich diesem Zustand wieder näher. Also bringe ich das jetzt hier schnell hinter mich. Ein kleiner Zwischensnack sozusagen.
Bei uns zu Hause wurde immer eher deftig gekocht. In reichlich Fett gebratene Wurstbatzen trafen im Teller auf in Butter und Schmalz geschwenkte Kartoffeln und fettige Soßen. Es hat mir immer sehr gut geschmeckt, ich habe immer gut zugelangt. Heute widert es mich an, wenn ich nur daran denke.
Sie erwarten nun wahrscheinlich, dass ich in meiner Kindheit und Jugend viel mit Sprüchen à la »Es wird gegessen, was auf den Tisch kommt« oder »Der Teller wird leergegessen!« traktiert wurde. Das kann ich nicht verneinen, aber es war wohl kaum schlimmer als in anderen Familien. Wenn es schon damals eine Verbindung zwischen Essen
Weitere Kostenlose Bücher