"Dann iss halt was!": Meine Magersucht – wie ich gekämpft habe – wie ich überlebe (German Edition)
gar nichts. Der rennt ins Fitness-Studio, wird aber immer fetter!« Um genau zu sein, war es noch etwas anderes, das alles veränderte: Michael spielte mir diesen O-Ton tatsächlich vor. Die Offenbarung traf mich mit der Wucht meines gesamten Gewichts und ließ mich taumeln. Der Satz ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Bis heute nicht. Es ist gut möglich, dass der Urheber dieses Zitats – sollte er diese Zeilen zu Gesicht bekommen – zum ersten Mal von dieser Abhöraktion erfährt. Von einem Satz, der für ihn keine Bedeutung mehr hatte, unmittelbar nachdem er über seine Lippen gekommen war. Ein Satz, der mit dafür verantwortlich war, mein Leben zu verändern.
Es war in der Welt, ausgesprochen von einem Freund, hinter meinem Rücken. Dieser Satz war aber in meiner Wahrnehmung nicht das, was einer sagte, es war das, was alle dachten. Ich ahnte, dass sie tuscheln, aber ich hatte die vage Hoffnung, dass ich die schlechten Reden über mich durch meine freundliche, hilfsbereite Art verstummen lassen könnte, ehe sie gesprochen würden. Ich hatte mich geirrt. Es stellte sich das Gefühl ein: Egal, was ich mache, es ist immer zu wenig, immer das Falsche. Von dem Moment an, in dem ich dies hörte, konnte ich mich selbst auch nicht mehr leiden. Diesen kleinen, feisten, albernen Gutmenschen, der dachte, er könne aller Welt gefallen nur durch Verständnis, Einsatz und viele Worte. Das Ergebnis aus diesem Erlebnis? Ich kündigte niemandem die Freundschaft, brach nicht in Tränen aus oder zeigte mich auf andere Weise verletzt. Ich verleugnete mich noch weiter nach außen und wurde noch renitenter nach innen, gegen mich selbst. Denn meiner Meinung nach war ich selbst schuld.
Den Ansprüchen der anderen niemals genügen zu können – dieses Gefühl nahm ich mit auf meinen weiteren Lebensweg. Ich dachte, es keiner Frau zumuten zu können, mein Fettgewebe anzufassen, und keinem Sportkameraden, mich unter der Dusche anschauen zu müssen. Ich spürte tiefe Scham und fühlte mich von nun an nicht mehr wohl in meiner Haut. Und so packte ich nach dem Sport schnell meine Tasche, geduscht wurde zu Hause, dort, wo auch gegessen wurde. Es begann der totale Rückzug. Überall Blicke, die in meinem Empfinden nur auf mich gerichtet waren, überall Unverständnis, Hohn und Spott für einen, der sich nicht im Griff hat. Ich war der dickste Mensch der Welt. Mindestens.
So habe ich das Fühlen verlernt. Deshalb wusste ich nicht, wo unter der ganzen Sentimentalität meine Schmerzgrenze verborgen lag. Gab es da überhaupt eine? Wenn ja, verschob ich sie je nach Bedarf. Ich hatte für alles Verständnis, für jedes Problem eine Lösungsidee und für jeden noch so nichtigen Anlass ein Geschenk. Es gab kein »Mit mir nicht!«. Und für diese aufopfernde Grundhaltung fand sich schließlich doch noch ein perfektes Gegenüber.
Es war Ostern 1986, als ich bei unserem alljährlichen Frühjahrsurlaub in Oberstdorf Gabi traf. Mit einem Schneeball. Oben in der Gipfelmulde des Nebelhorns. Hübsch, klein, blond gelockt, schüchtern und auf eine zurückhaltende Art geheimnisvoll, interessant und sympathisch. In ein erstes Gespräch kamen wir auf der Treppe sitzend zwischen erstem Stock und Bauernstube. Sie war die einzige nahezu Gleichaltrige in der »Pension Bergland«, in der wir seit gefühlten hundert Jahren immer unseren Ski-Urlaub verbrachten. Wie alle anderen auch. Denn hier waren nur die, die immer hier sind. Es war eine Art geschlossener Zirkel. Eingelassen zu werden war ein bisschen so wie Dauerkarten zu erhalten für Real Madrid oder Borussia Dortmund. Entweder konnte ein eingesessener »Bergländer« aus verschiedenen Gründen die Reise nicht mehr antreten und machte somit den Weg frei für einen neuen Gast. Oder aber er brachte eine Begleitung mit.
So wie in diesem Fall. Gabi war die Tochter der neuen Freundin eines Stammgastes. Ein lebenslustiger Pensionär, der seine Bekanntschaften mit seinem Mercedes Coupé immer sehr gerne in das heile Bergland des Oberallgäus chauffierte.
Die »Pension Bergland« bot all das, was ein Haus zu bieten hat, das »Pension Bergland« heißt. Und sogar ein bisschen mehr. Schwere Holztische, niedrige Decken, Kachelofen, knarzende Böden, eine schwere, weiße Porzellan-Suppenschüssel mit Löwenköpfen als Henkel und einen Bauernschrank voll mit Spielen. Auch bei der Verpflegung gab es keine halben Sachen. Üppiges Frühstück und ein Drei-Gänge-Menü am Abend.
»Bergland« war die kleine Urlaubswelt, das
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