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"Dann iss halt was!": Meine Magersucht – wie ich gekämpft habe – wie ich überlebe (German Edition)

"Dann iss halt was!": Meine Magersucht – wie ich gekämpft habe – wie ich überlebe (German Edition)

Titel: "Dann iss halt was!": Meine Magersucht – wie ich gekämpft habe – wie ich überlebe (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Frommert , Jens Clasen
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lebensnotwendig, ganz bestimmte Produkte zu erwerben, um sie horten zu können. Selbstverständlich nicht, um sie zu konsumieren.
    Ich scannte die elf Seiten lange »Patienteninformation« nur auf Schlüsselworte. Und ich war mir bewusst: Die Privatsphäre eines 43 Jahre alten privatversicherten Mannes wog, egal wie leicht er war, schwerer als die der 15 Jahre jungen Kassenpatientinnen im Doppelzimmer nebenan. So funktioniert das eben. Überall in diesen Gesundheitsfabriken.
    Aber was uns alle einte, war dieser faszinierende Gleichklang: Alle Essgestörten, egal wie alt, egal woher, egal wie lange und wie oft schon hier, tickten genau gleich. Menschen, die sich nie gesehen hatten, träumten die gleichen Träume, kannten die gleichen Ängste, folgten den gleichen Zwängen. Es herrschte blindes Verständnis, unausgesprochene Übereinstimmung, unter den Magersüchtigen ebenso wie unter den Bulimikern. Manchmal fanden gar Metarmorphosen statt. »Du kommst als Magersüchtiger«, heißt einer der Sprüche dort, »und gehst als Bulimiker.« Das Programm hat die Macht, das Programm muss laufen. Das Programm heißt: Nicht die Klinik bestimmt, wie und was ich esse, sondern die Krankheit.
    Der breite Konsens war frappierend. Die magersüchtigen Mitpatientinnen waren zwar mehrheitlich junge Mädchen zwischen 15 und 25 – aber sie taten alle das Gleiche wie ich: Sie tranken Cola light, suchten den fettärmsten Quark oder Joghurt, mieden Fett und Kohlenhydrate wie Vampire das Sonnenlicht. Und wie Vampire sahen wir auch aus. Was mich daran so beeindruckte: Niemand lernt, magersüchtig zu sein. Es gibt keine Informationsseiten im Internet mit dem Namen »How to become magersüchtig«. Mit einem Mal kam mir diese Krankheit – die ich ja nach wie vor nicht akzeptierte selbst zu haben – vor wie eine Viruserkrankung. Bei Masern bekommt der Mensch Fieber, rote Punkte und wird überempfindlich gegen Licht. Bei Magersucht kauft er 0,1-prozentigen Joghurt, isst ihn mit möglichst zuckerarmem Obst und behauptet steif und fest, er sei nicht krank. Wir können alle sofort aufhören – beziehungsweise wieder anfangen mit dem Essen.
    Ich persönlich investierte vornehmlich in Lebensmittel oder zumindest in das, was ich dafür hielt. Ich hamsterte gerne, und ich entsorgte noch lieber. Was schlecht wurde, warf ich großzügig weg. Nichts erfreut das Herz eines Magersüchtigen mehr als verdorbene Nahrung. »Konnte nichts essen, war ja alles abgelaufen. Mindestens seit gestern.« Das Haltbarkeitsdatum als Absolutionsformel. Hiermit erteilt: Weg damit!
    So machte ich das auch schon zu Hause, seit Jahren. Keine noch so schlanke Aubergine, keine noch so dürre Landgurke, von der man nicht noch eine Scheibe abschneiden konnte. Irgendeine Unreinheit, ein undefinierbares Fleckchen, eine braune Stelle, fand sich immer. Alles muss raus. So bestand Essenszubereitung für mich vor allem aus Kaufen, Untersuchen, Abschneiden und großzügigem Wegwerfen. Darf’s auch ein bisschen weniger sein?
    Nun werden Sie sagen: Der betrügt sich doch nur selbst. Ja, recht haben Sie. Aber das tun alle, denn das ist das Wesen dieser Krankheit. Darum heißt sie wahrscheinlich auch Sucht: Weil wir uns so irrational und bescheuert verhalten wie Junkies, die auf der Suche danach sind, sich den nächsten Schuss zu organisieren.
    Es ist dies alles meine sehr individuelle Sicht der Dinge. Für viele ist die Klinik am See Zuflucht, Hoffnung, Versteck, Schutz, Hilfe. Allerdings für einige auch schon zum x-ten Mal, und deshalb stelle ich die Effizienz der Behandlung in Frage. Aber sie lässt einen auch in eine Welt versinken, deren Mauern blickdicht sind, undurchlässig für die Pflichten, Ängste und Demütigungen des Alltags. Alles ist Schutz. Vor denen da draußen und vor dem eigenen Ich. Die Unterschrift an der Rezeption bedeutet nicht selten die Abgabe seines Selbst, so als tausche man seine Jacke an der Garderobe gegen eines dieser kleinen Märkchen ein. Station x, Zimmer y, und: Bitte nicht auflehnen!
    Als ich Mitte Juni wieder auf Pluto gelandet war, stand ich so plötzlich auf unbekanntem Terrain. Ein Außerirdischer auf seinem Heimatplaneten. »Und jetzt?«, fragte ich mich laut. Und niemand antwortete. Anna lachte leise in sich hinein, und das bisschen Christian in mir blieb stumm. Wer sagte mir denn nun, was ich zu tun hatte? Wann ich wo zu sein hatte, was es zu essen gab? Ich hatte mich mit Kopien von Essensplänen eingedeckt, alles mitgenommen, was ich in die

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