"Dann iss halt was!": Meine Magersucht – wie ich gekämpft habe – wie ich überlebe (German Edition)
und Fühlen gab, dann war die viel subtiler. Sagen wir es so: Meine Mutter war nie ein leidenschaftlich liebender, lautstark genießender Mensch. Aber sie ging beim Kochen professionell zu Werke und betrieb dabei einen hohen Aufwand. Sie kochte mit großer Lust und Hingabe, und sie kochte gut. Sie war nicht altbacken. Sie probierte. Ich liebte ihren Kartoffelsalat, den sie schon damals mayonnaisefrei hielt. Zumindest das. Gesund kochen, das stand in den Siebzigern und Achtzigern eben noch nicht auf dem Speiseplan. Omega-3? Das war allenfalls der Name für einen Saturn-Mond oder einen Wettersatelliten. Raps-, Lein- oder sonstige Öle? Schau mal unten in der Garage nach.
Ich aß und kümmerte mich nicht um Kilos, Kalorien oder Körperkult. Es schmeckte mir, und bei Wurstsuppe, kesselfrischer, warmer Leberwurst und Pellkartoffeln oder Bohnen im Speckmantel empfand ich ein wohlig warmes Gefühl von Zuhause und Geborgenheit. Schon im Flur verriet einem der Duft, was gleich auf den Teller kam. Bisweilen war es auch der Wochentag, der schon ahnen ließ, welches Mahl aufgetischt wurde.
Vielleicht habe ich unbewusst versucht, die Liebe meiner Mutter durch das Essen aufzunehmen, ich weiß es nicht. Das Verrückte ist: Je mehr »Liebe« ich aß, desto mehr brauchte ich. Denn, so empfand ich es, je mehr ich aß, desto weniger liebenswert fand mich meine Umgebung. Und ich mich selbst.
Sie können sich vorstellen, dass es für einen dicken Burschen wie mich mit den Mädchen nicht einfach war. Meine Attraktivität war in etwa die des tapsigen, fetten zweitbesten Freundes, den jeder aus US-Kinderfilmen kennt. Sprich: Sie war gleich null.
Ich erinnere mich noch heute an die schöne Sabine, mit der ich auf einer Klassen-Radtour schäkerte und lachte. Es war eine seltene Erfahrung: Ein Mädchen, noch dazu eines, das die Blicke nicht nur von uns Mittelstufenbuben auf sich zu lenken wusste, gab mir das Gefühl, mit mir Spaß zu haben, sich für mich zu interessieren.
Zufrieden kroch ich am Abend in mein Zelt, in dem wir eigentlich zu zweit schliefen, mein Kumpel Alexander und ich. Zu meiner Überraschung war Sabine auch schon da. Verdeckt von Alexanders Kreuz. Umschlungen von seinen Armen. Die beiden hatten alle Münder voll zu tun. Ich wurde meiner Enttäuschung schnell Herr und begnügte mich damit, still daneben liegen zu bleiben. Wo sollte ich auch hin? Die beiden störte meine Anwesenheit nicht weiter.
So war es immer. Ich glaube, die Mädchen meinten es nie böse. Nicht Sabine, nicht Christina, Claudia oder Silke. Für sie war es schlicht undenkbar, mich als männliches, potenziell interessantes Wesen zu sehen. Für sie war ich ein Neutrum.
Der nette, hilfsbereite Dicke. Der Kumpel. Der zum Reden. Auf diese Kompetenzen verlagerte ich mit der Zeit mein Angebotsspektrum. (Lesen Sie da jetzt Speck-Trumm? Nein? Ich schon.) Längst hatte ich meine Triebe zu unterdrücken gelernt, die Emotionen wegzuwischen. Der beste Freund zu sein genügte mir. Alles andere war eh unerreichbar. Und es gab ja immer jemanden, der getröstet werden wollte, ein Ohr brauchte, eine Schulter, ein Wort. Irgendwer unglücklich? Immer noch? Moment, ich komme!
Zu meiner dicksten Zeit, Ende der 80er, wog ich rund 140 Kilo. Ich hatte nie eine Wampe, ich war einfach sehr massig. Das Frommert-Massiv.
Ich lebte nach dem Motto: Wozu sich schinden, um körperlich zu gefallen, wenn ich geistig doch enorm fix, wendig und ausdauernd war? Dennoch ließ ich mich von meinen Kumpels breitschlagen, mal mit ihnen in ein Fitness-Studio zu gehen. Eine Leidenschaft für diese Art der Bewegung entwickelte sich bei mir nicht. Ich spielte gern Ballsportarten. Das weckte meinen Ehrgeiz. Aber Stahl in die Höhe zu hieven und an Seilen zu ziehen …? Nö, das war meine Sache dann eher nicht. Ich behandelte das Ganze als lästige Pflicht. Lieber saß ich anschließend mit einem meiner Kumpels, Michael, in seinem zum Tonstudio umfunktionierten Zimmer, zupfte Saiten, schlug Akkorde und schmetterte Lieder. Manchmal machten wir Radio. Kassettenweise wurden » CM Radioshows« erstellt, so richtig mit Moderation und »fade in« und »fade out«. So kam es, dass auf Michaels Tisch stets ein aufnahmebereites Mikro lag. Eines Tages wurde es zur Wanze.
Mein anderer Kumpel, Christoph, besuchte Michael, und sie redeten – über mich. Ohne es zu wissen, bei laufendem Band. Und dabei fiel ein Satz, der alles veränderte. Christoph sagte: »… und schau ihn dir doch an … das bringt doch
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