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"Dann iss halt was!": Meine Magersucht – wie ich gekämpft habe – wie ich überlebe (German Edition)

"Dann iss halt was!": Meine Magersucht – wie ich gekämpft habe – wie ich überlebe (German Edition)

Titel: "Dann iss halt was!": Meine Magersucht – wie ich gekämpft habe – wie ich überlebe (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Frommert , Jens Clasen
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einer ent- und zerrissenen Kindheit.
    Als mich eines Tages eine der Psychologinnen – die dort zu meiner Zeit häufig wechselten, was dem Genesungsprozess nicht gerade förderlich war, mir aber beim Durchmogeln half – als mich die Therapeutin also dabei ertappte, wie ich nach dem Essen die obligatorische Süßspeise unter dem Tisch verschwinden ließ – ein Eis im Becher –, forderte sie mich zum Einzelgespräch.
    »Finden Sie das gut, was Sie da eben gemacht haben?«
    Erste Phase: Unschuld. »Öh, was denn?«
    »Sie haben die Süßspeise entsorgt.«
    Zweite Phase: Der reuige, aber geständige Sünder. »Ja. Das tut mir wirklich leid. Es ist alles nicht einfach, wissen Sie …«
    »Sie wissen aber, dass es so nicht besser wird, oder? Dass Ihnen das nicht hilft? Und dass es andere animieren könnte, das Gleiche zu tun?«
    Dritte Phase: Der schwer geplagte Sonderfall. »Natürlich weiß ich das. Und grundsätzlich esse ich das Zeug ja. Widerwillig natürlich. Ich weiß, dass wir hier alle in einem Boot sitzen. Nur wenn wir alle nach den Regeln spielen, ist allen geholfen. Aber beim Eis, da kommen bei mir eben immer die Erinnerungen hoch … an meinen Vater, der einen Schlaganfall bekam, als wir da in Südtirol in diesem Eiscafé …«
    »Ach, Gott. Na dann wird mir einiges klar …«
    Wie gesagt, ein leichtes Spiel. Auf das ich kein bisschen stolz war, aber dessen Regeln ich einfach verinnerlicht hatte.
    Sobald ich einmal ein Kommunikationsmuster durchschaut habe, kann ich nicht anders, als es selbst anzuwenden und zu perfektionieren. Irgendetwas musste hier jeder gegen die Langeweile tun – ich kommunizierte. Also begann ich, in den Gruppensitzungen massiv Feedback zu geben, Leuten im angebrachten Betroffenheitston Wahrheiten zu sagen, bei denen sich die Psychologen sehr zurückhielten und welche die anderen sich nie zu äußern gewagt hätten. Ich teilte ganz schön aus. Hier eine Kostprobe meiner Ratschläge:
    »Damit musst du deine Eltern mal konfrontieren.«
    »Das kannst du nur alleine schaffen!«
    »Hör auf mit der Jammerei!«
    »Das ist elendes Selbstmitleid, das will keiner hören, und das hast du gar nicht nötig.«
    Der Gipfel war jedoch, dass ich Adipositas-Patienten Tipps gab, wie sie ihre Ernährung umstellen konnten, um abzunehmen. »Lass doch einfach mal die Kohlehydrate weg, verzichte auf Süßes, Kartoffeln, Schweinefleisch, weißes Mehl. Erhöhe die Fettverbrennung zum Beispiel mit dem Verzehr von Chili.« Gefolgt von einem kleinen Vortrag über die heilsame Wirkung von Capsaicin und Co.
    Der Magersüchtige als Ernährungsberater. Mephisto als Eintänzer für die arme Seele.
    Nichts tangierte mich wirklich. Keine Spiegeltherapie, keine Familienaufstellung, kein Rollenspiel. Niemand erreichte mich, dachte ich. Man könne ein Körpervideo erstellen lassen, hatte ich gehört. Das klang zumindest interessant. Eines Morgens lief ich im Kreis durch einen kleinen Raum voller Stühle. Die Szenerie erinnerte ein wenig an die »Reise nach Jerusalem«. Ab und an musste ich anhalten und kleine Übungen vollführen. Arm hoch, nach hinten, nach vorne. Ich fand es eher albern. Als ich das Video sah, fand ich es schockierend. Da lief eine hölzerne Marionette, eine skurrile Figur. Da stand ein Zinnsoldat. Unwirkliche Proportionen, ungelenke Bewegungen. Das bin ICH ? Die Bilder durften nur in meiner Erinnerung bleiben, die Klinik weigerte sich hartnäckig, mir eine Kopie des Filmchens für die weitere Abschreckung zu überlassen.
    Ich gab mir ansonsten redlich Mühe, mich anzupassen, aß sogar gerne mein Frühstück. Nur das Mittagessen war immer schwierig. Es gibt einfach kein Menü, das tauglich für Magersüchtige ist. Und dann auch noch diese Nachspeise …
    Viele sagten nach einer Weile, ich sähe besser aus, was ich nur ungerne hörte, weil es nur bedeuten konnte, dass ich ordentlich zugenommen hatte. Dass ich » ECHT FETT « geworden war. Ich schob es auf das wunderbare Wetter, auf den frischeren Gesichtsteint. Die gelbe, vom Leberschaden zeugende Farbe war weg. Und ich war richtig froh und dankbar, als mich eines Tages Lena, eine der Dünnsten und Schwächsten unter den Mädchen, zu einem Spaziergang überredete und mir sagte: »Du bist ja mal richtig krank! Du siehst von uns allen am allerschlimmsten aus.« Das schmeichelte mir so ungemein!
    Sie musste es ja wissen. Und sie wusste es: Wenn ich heute Fotos von mir von damals sehe, weiß ich, dass sie recht hatte: Mein Gesicht war eine magere Fratze,

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