"Dann iss halt was!": Meine Magersucht – wie ich gekämpft habe – wie ich überlebe (German Edition)
leichter als beim Wetter: Das gefühlte Gewicht ist immer zu hoch, selbst bei extremer Magersucht. Und die Gefahr, dass ich explosionsartig fett aufquelle, lauert in jedem Krumen Brot. So stehe ich vor dem Spiegel und sehe mich gar nicht. Ich schaue lieber weg, um nur keine schlechten Nachrichten zu sehen.
Ich habe einen »Rassismus gegen Fett« entwickelt. Es ist ein Kreuz: Ich weiß, ich muss zunehmen, um zu überleben. Aber ich wehre mich innerlich dagegen, mein Geist stößt den Gedanken an mehr Fett ab wie Antikörper die Viren. Dabei kann ich im Grunde froh sein, wenn ich überhaupt wieder zunehme. Als es ganz schlimm um mich stand, hatte mein Körper komplett auf Lebenserhaltung umgestellt – er hatte gar keine Ressourcen, um damit den körperlichen Aufbau zu befeuern. Der Weg für mich ist noch weit: Bereits unterhalb von 57 kg erfüllt ein 1,80 Meter großer Mensch die Gewichtskriterien für Magersucht. Ich müsste zehn Kilo zunehmen, um überhaupt an dieser Grenze zu kratzen.
Meine ruinöse Erscheinung bezeichnet der Arzt als »typische Erscheinungen einer schwer ausgeprägten Magersucht, ausgeprägte Mangelernährungserscheinung bei vermutlich ständiger körperlicher Überbeanspruchung«.
Sag ich ja: Gerippe eben.
Weitere Symptome: Starker Bewegungsdrang, zwanghafte Rituale, immer getrieben von der Angst, unnötig zuzunehmen, gedankliches Einengen und verzerrte Wahrnehmung.
Interessant finde ich, dass viele Experten nicht dem Magersüchtigen allein die Schuld an seiner Krankheit geben. Liegt ja nahe zu sagen: »Idiot, dann iss halt was.« Es liegt so nahe, dass es mir fast jeder auch sagt, oder ich sehe, dass er es denkt, schreiend laut. Der psychische Zwang und die Not, die damit verbunden sind, die gründen ja nicht nur auf der jeweiligen Persönlichkeit, sondern auch im Umfeld. Und was sehe ich da? Diätbücher, regenbogenfarbene Illustrierte, Nachrichten- und Fitness-Magazine, die nur noch einen Inhalt kennen: dünner! Denn dünn sein heißt: Gesünder. Schneller. Fitter. Geiler. Nichts soll mich exkulpieren. Ich weiß sehr genau um meinen Teil der Schuld, meinen Teil der Verantwortung, die ich für mich trage oder eben nicht. Ich arbeite daran. Auch wenn ich noch nicht genau weiß, in welche Richtung mit welcher Geschwindigkeit.
Diätwahn und Körperkult sind Teil des Problems. In der heute normal gewordenen Überinszenierung des Körperlichen sehen viele Experten einen Grund für eine ganze Generation voller Essgestörter. Ich gehe noch weiter und behaupte: Das übertriebene Schlankheitsideal unserer Überflussgesellschaft ist pervers. Wer den Zusammenhang nicht glauben will, macht die einfache Gegenprobe: Schauen Sie sich mal in Ländern um, in denen Menschen per se wenig zu essen haben – in der Sahel-Zone werden Sie keine Magersüchtigen finden.
Und wir, die wir genug zu essen haben, was tun wir? Wir nutzen Essen zu allem möglichen, nur nicht zum Sattwerden. Wir essen Salat aus Tuben, schauen gestern noch unbekannten Leuten auf teuren DVD-Sondereditionen beim Kochen zu, geben viel Geld für ihre Bücher aus und lassen uns zum zigsten Mal im Fernsehen erklären, wie ein Fisch gebraten, eine Artischocke vorbereitet und der Garnele der Darm gezogen wird. Wir modellieren unsere Körper zu einem Ideal, das einer Industrie entsprungen ist, die mit Ernährungstipps, Sixpack-Übungen und Trizeps-Trainings Millionen verdient. Dazu gereicht wird die Für-alle-Fälle-Abnehmgebrauchsanweisung und ganz viel Quatsch mit Soße. Wir basteln uns ein körperliches Selbst, das mit den Ansprüchen und Wünschen unserer Seele nichts zu tun hat und ihm nicht selten gar entgegenläuft. Unser Körper ist wie eine Visitenkarte, er transportiert sich nur noch als Idealbild seiner selbst, aber nicht des Menschen, zu dem er gehört – dieser definiert sich letzten Endes darüber, was er isst, und nicht mehr darüber, wer er ist.
Auf diesem Wege können wir uns nicht nur verirren, wir können darüber verloren gehen, glauben Sie mir, ich weiß, wovon ich rede. Ich habe seit jeher die perfekten Voraussetzungen für die Magersucht in mir getragen – und ich habe alle diese »Trümpfe« ausgespielt. Mangelndes Selbstwertgefühl bei hoher Anpassungsbereitschaft, Schwierigkeiten im Umgang mit Gefühlen, gestörte Wahrnehmung der eigenen Identität, gestörtes Verhältnis zum eigenen Körper – und zu dessen Ausmaßen. Und diesen Grad der Perfektion, der Gewohnheiten schnell zum Zwang werden lässt. Alles, was
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