"Dann iss halt was!": Meine Magersucht – wie ich gekämpft habe – wie ich überlebe (German Edition)
an, was man draus macht. Um es in Bürokategorien zu sagen: Auf zehn Quadratmetern T-Mobile hatte man Arbeitsbedingungen, die es auf 2000 Quadratmetern FR nie gab, nicht ansatzweise. Modernes Leben und Arbeiten. Eine völlig neue Welt, in die ich katapultiert wurde. Ich ging wie ein kleines Kind durch die Räume und staunte alles an: eine Bar, ein Kaffeeautomat, höhenverstellbare Schreibtische, Sprachkurse, Inhouse-Supermarkt, ebenso eine Bank, ein Friseur, Geld- und Fahrkartenautomat, Laptops für alle, Super-Rechner auf den Tischen und in Taschen. Es war alles da – und was nicht da war, war bald hergeschafft – Anruf genügt.
Nur der Christian vom Dienst blieb der alte. Rackern bis zum Umfallen. Ich bekam von der Telekom ein Appartement in Bonn zur Verfügung gestellt. Es war nur ein Zimmer, was nicht schlimm war, weil ich es ohnehin nur selten sah, und wenn, dann im Dunkeln. Ich sollte es nur für eine kurze Übergangszeit beziehen, blieb aber länger, da keine Zeit blieb, etwas Eigenes zu suchen. Ich wohnte im Betrieb. Ich hatte später eine Wohnung in Königswinter. Gelebt habe ich in Bonn und Umgebung nie. Ich ging früh arbeiten, fuhr abends zum Einkaufen, aß, ging ins Bett und stand schnell wieder auf. Oder ich war auf Reisen. Ich war sehr viel auf Reisen. Ich hatte so gesehen kein Zuhause mehr. Meine zwischen Tür und Angel IKEA-aufgemöbelte Wohnung in Königswinter war meist unbewohnt, die in Hofheim zu einem Wochenendlager verkommen. Oder besser: einer Art Terroristenwohnung. Im Dunkeln rein, im Dunkeln raus. Sowohl hier wie da.
Im Oktober 2006 kam ich von der Tour de France zurück, die traurige Berühmtheit erlangen sollte. Doch dazu später mehr. In meiner Bude zwischen Rhein und Königswinter-Drachenfelsen hing immer noch der Kalender von T-Systems an der Wand. Darauf schöne große Segelschiffe und das Monatsblatt November 2005. Danach hatte ich nie wieder ein Blatt abgerissen. Ich nehme das symbolisch: Die Zeit, die ich dort verbrachte, war mir schlicht egal gewesen.
Krankenhauskost, die Zweite
Krankenhäuser machen nicht gesund,
sonst würden sie Gesundhäuser heißen
Was ich damals bei der FR so gegessen habe, unterschied sich übrigens gar nicht so sehr von dem, was es in der Roseneck-Klinik gab. Ich weiß noch genau, was ich damals zu mir nahm. Mittags lief ich immer in den benachbarten Kaufhof, kaufte mir Obst, Frischkäse (mit wenig Fett) und diese kleinen Karotten in Tüten, auch Fingermöhren genannt. Sonntags nahm ich mir immer einen Pott Müsli mit, da kam dann – natürlich – Magermilchjoghurt hinein. Wenn ich nach Hause kam, gab es Rohkostsalat mit Hüttenkäse, manchmal auch Hüttenkäse mit Rohkost. Immer. Ein wenig auffällig war mein Essverhalten also schon damals. Das blieb niemandem verborgen. Als Abschiedsgeschenk produzierten die FR -Kollegen die obligatorische »eigene Zeitungsseite«. Die Überschrift des so genannten Aufsetzers am Fuß der Seite: »Ein Mann sieht Obst«.
Erinnerungen. Was blieb mir hier sonst? Der Alltag in Prien war bald nur noch Trott.
Der anfängliche Kitzel des Nur-nicht-beim-Cola-Zero-Trinken-erwischen-Lassens war geschwunden – schließlich war es auch egal, wenn man ertappt wurde. Der Reiz des In-den-Therapierunden-verbal-Auftrumpfens verfiel mit
der Erkenntnis der Sinnlosigkeit dieser Gesprächskreise. Auch Neugier und Faszination ob der Parallelen zwischen mir und meinen Mitpatienten schwanden mehr und mehr. Ich hatte trotz meiner drastischen Symptome keinen Zweifel: Die meisten hier litten mehr als ich. Denen ging es richtig schlecht. Ich sah hier junge Frauen, ach was: Mädchen, deren tiefe rote Narben an Armen und Körper aussahen, als hätte jemand versucht, sie in Scheiben zu schneiden. Bald wusste ich: Jemand hat das versucht. Sie selbst. So weit war ich nie. Aber selbst wenn das eine ermutigende Erkenntnis hätte sein können und selbst wenn es anfangs bei mir womöglich noch eine Hoffnung auf wundersame Heilung gegeben haben mochte – oder sagen wir: Verbesserung, denn ich hielt mich ja nicht wirklich für krank –, so wollte ich schließlich nur noch weg, weg, weg. Und das ganz bestimmt nicht auf die Weise wie so viele, die jetzt von »draußen« Postkarten schrieben, und sich wieder zurück hierher sehnten. Sondern wirklich weg. Nach Hause. In meine Burg.
Es ist natürlich logisch, dass eine Einrichtung, die sich in erster Linie an Frauen und vor allem junge Frauen richtet – sie stellen noch immer die große Mehrheit
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