"Dann iss halt was!": Meine Magersucht – wie ich gekämpft habe – wie ich überlebe (German Edition)
Zugbrücke hoch, Wassergraben gefüllt, Burgfrieden.
Klar, es war und ist ein schöner Gedanke, zu Hause zu sein. Aber ich fühlte mich dort eher komplett verloren. Das Gefühl, tatsächlich nach Hause gekommen zu sein, stellte sich nicht ein. Hatte ich noch eines? Und wenn ja, wo war es eigentlich? Kaum hatte ich die Tür hinter mir geschlossen, war mein erster Impuls, wieder hinauszurennen, hinunter in die Tiefgarage, ins Auto zu klettern, das Tor via Knopfdruck von der kleinen Kette hochziehen zu lassen und wieder davonzubrausen. Ich fuhr gerne im Auto. Wenn ich mich erst mal hineingequält hatte, fühlte ich mich wie in einem geschützten Käfig. Musik, Telefon, alles im Blick, alles im Griff. Und dann? Wieder zurück, immer Richtung Süden, dorthin, wo mir Gebackenes und Gebratenes in den Mund fliegt? Oder eben woanders hin … Nur, wohin …?
Ich überlegte, in der Klinik in Prien anzurufen und mir Rat zu holen. Die Hauptfragen: Was sollte ich essen, wann, wie viel? Zwar hatte ich mir die Essenspläne mitgebracht, erbettelt bei den Damen an der Theke oder fotografiert via Handy, ich hatte mir die Rezepte aus der Ich-Versuch-Küche der Klinik mitbringen lassen. Aber alles war einzig dem Goethe’schen Motto geschuldet: Denn was man schwarz auf weiß besitzt, kann man getrost nach Hause tragen. So hatte ich es ja auch stets mit meinen Kochbüchern gemacht, die ich mir in meinen mageren Jahren in Massen kaufte. Sie waren teilweise noch Jahre nach Lieferung in ihre Plastikhüllen eingeschweißt. Hauptsache haben. Ebenso wie dieses tiefe Wissen über jedes kleinste noch so unwesentliche Ernährungsdetail. Ich kannte jedes Spurenelement mit Vornamen. Wusste, was mit wem wann wie welche Verbindung eingeht, wie sie dann auf die Gesundung des Körpers wirkt und wann und warum das schlecht ist. Für mich. Gegessen wurde immer das Gleiche. Gelerntes, Rituelles. Rückzug auf sicheres, weil gewichtsstress-getestetes Terrain. Aber einfach wieder zurück in die Zukunft? Immerhin war ich doch nun eine längere Zeit weg gewesen, sollte das nun wirklich komplett umsonst gewesen sein?
Die in Prien kennen sich doch sicherlich aus mit solchen Fällen, dachte ich. Und vergaß dabei völlig, dass mir noch vor wenigen Stunden nichts wichtiger war, als von dort wegzukommen und nie, nie wieder etwas mit denen zu schaffen haben zu müssen. Da kann ich doch jetzt nicht anrufen, schoss es mir schließlich doch durch den Kopf.
Das wäre eine Niederlage vor Beginn der Schlacht.
Die Gedanken wanderten dennoch unvermeidlich zurück. Nach Prien. Da saß ich zwischen unausgepackten Koffern, körperlich bereits wieder an meinen Grenzen, und zog Bilanz.
Hatte mir die Klinik überhaupt etwas gebracht?
Und wie immer: Ich suchte Kompromisse. Die Mitpatienten, die waren wunderbar für mich gewesen. Sie hatten mir Augen geöffnet und sogar ein Stückweit den Mund.
Sicher, ich hatte jetzt ein anderes Essensgerüst. Das aber wackelte dauernd. Zumindest eine minimale morgendliche Kohlenhydratration ließ ich zu. Doch, ich war stabiler geworden, wenn man das von einem wandelnden Skelett sagen kann. Bei genauerer Betrachtung war diese Stabilität aber durch Tricks ergaunert. Ein Beispiel: Seit Prien esse ich zum Frühstück immer das Gleiche. Zwei Brötchen. Die allerdings ausgehöhlt bis zum Exzess, so dass nur die Kruste übrig bleibt. Dieser durchscheinende Rest wird dann im Toaster tiefschwarz gebrutzelt. Dazu gibt es eine Art Diabetiker-Honig (Crème Royal) und die kalorienärmste Marmelade, die ich finden kann. Es wundert sicherlich niemanden, wenn ich sage, dass ich diese Kalorienträger mehr oder weniger an meinem Brötchen-Hauch vorbeihalte. Und die Krönung der von Roseneck nach Hofheim transportierten Essenswelt: Ich serviere mir meinen Magerquark und meine Marmeladen-Honig-Mischung in den Original-Schälchen aus der Klinik. Auch davon habe ich mir einen Vorrat angelegt.
Das ist Essen als Geste, nicht mehr. So viel zum stabileren Gerüst.
Dann überlegte ich wieder andersherum: War ich vielleicht zu streng, verlangte ich zu viel von solch einer Klinik? Ich kannte all die Sprüche: »Letztlich kann man in solch einer Einrichtung nur einen Anstoß bekommen. Alles andere muss aus einem selbst heraus geschehen.« Aber von jetzt auf gleich, dachte ich, von null auf Normalgewicht? Allein? Niemals. Eben noch nehmen sie dir jedes Denken und jede Entscheidung ab – und schon sollst du eigenständig wieder ein normales Leben mit – fürs Erste
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