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"Dann iss halt was!": Meine Magersucht – wie ich gekämpft habe – wie ich überlebe (German Edition)

"Dann iss halt was!": Meine Magersucht – wie ich gekämpft habe – wie ich überlebe (German Edition)

Titel: "Dann iss halt was!": Meine Magersucht – wie ich gekämpft habe – wie ich überlebe (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Frommert , Jens Clasen
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eigenen Ich löst und zu sich hinblickt wie einst Meister Propper, der neben sich stand und sich selbst Ratschläge erteilte. Befehlsempfänger und -geber in Personalunion, nur von unterschiedlichem Geist getrieben. Doch das hier ist keine Reinigungswerbung. Es ist bittere Realität. Sich mitteilen, auf offene Ohren stoßen heißt demzufolge auch Großreinemachen, raus mit dem seelischen Müll, raus mit dem Unrat im Kopf. Ich darf und will mich einfach nicht länger verkriechen. Also, lesen Sie weiter! Sie helfen mir damit.
    Einen Punkt, der mir an der Magersucht besonders widerlich erscheint, habe ich schon anklingen lassen, und ich will ihn hier nicht verschweigen. Ich sagte bereits, dass ich mich lange geweigert habe, den Fakt anzuerkennen, dass ich krank bin, mein für andere offensichtliches Leiden als Krankheit zu akzeptieren.
    So sind wir alle.
    Wir sehen uns ja auch nicht als ungesund, hässlich dürr, sondern als schön schlank. In Wahrheit trug ich für meine Hungergestalt lange Zeit eine tiefe Wertschätzung. Sie wissen: Anna! Viele Magersüchtige lieben ihre Krankheit. Ein Blick auf die Foren und Fotoseiten der »Pro Ana«-Bewegung, in der sich die absolut fanatischsten Magermonster organisiert haben, genügt, um sich das Ausmaß dieses Wahnwitzes bewusst zu machen. Diese Menschen zelebrieren ihr Dünnsein, ihr graduelles Verschwinden, ihre Selbstausrottung durch Hungern auf eine Weise, bei der selbst mir schlecht wird.
    Aber ich war lange Zeit keinen Deut besser.
    Auch ich verehrte meine Krankheit wie eine Geliebte, ließ sie von mir Besitz ergreifen und mir von ihr Befehle einflüstern.
    Sie erwischte mich. Immer wieder neu.
    Wir wurden eins, sie saugte mich aus, regierte mich, und ihr warmer umschmeichelnder Griff war eiskalt, eisenhart und unerbittlich. Nicht einmal die unmittelbare Begegnung mit der Wahrheit über sie, also mein Aufenthalt in Prien, konnte mich ihr entreißen. Im Gegenteil: Ich war sogar stolz darauf, die Versuche der Ärzte, mich ihr abspenstig zu machen, erfolgreich abzuwehren. Aus heutiger Sicht komme ich mir fast vor wie ein pubertärer Verliebter, der in impertinenter Unvernunft allen Versuchen der Eltern trotzt, ihn und seine asoziale kleine Freundin auseinanderzubringen. Ich war stolz, dass ich nicht zuließ, dass jemand mich ihr entriss. Ich war stolz und glücklich, dass wir diese Sache gemeinsam durchstanden. Und unsere Liebe durch nichts zerstören ließen.
    Am 9. Juni 2010, nach sechs Wochen Eiertanz und Mimikri, hatte sie es geschafft: Ich verließ die Roseneck-Klinik in Prien. Das alles erschien mir so sinnlos und überhaupt nicht zielführend. Aus objektiver Sicht war es das wahrscheinlich auch, weil die Therapien und alles andere eben nicht auf einen Mann mittleren Alters ausgelegt waren. Und doch war es ein völlig wahnwitziger Entschluss, ohne geeignete Nachbetreuung zu gehen. Aber der Aufenthalt ist eben freiwillig – somit ist es auch der Abgang. Dass es längst nicht so leicht war, allein klarzukommen, sollte mir noch bitter klar werden.
    Nichtsdestotrotz war ich glücklich über meinen Abschied, und ich war zu 1000 Prozent davon überzeugt, dass es die richtige Entscheidung war, vorzeitig und als längst nicht austherapierter Kranker nach Hause zu gehen. Um im Bild zu bleiben: Ich war letztlich stolz auf eine Entscheidung, die nicht ich getroffen hatte, sondern sie: Anna. Alles würde gut werden, säuselte sie mir ins Ohr, wenn wir nur erst wieder unter uns wären. Ich glaubte ihr. Wollte ihr glauben. Aber auch wenn ich das Schlimmste körperlich hinter mir hatte – den sicher scheinenden Tod, die akute Krankheit meiner Organe –, kamen die härtesten Prüfungen erst noch auf mich zu.
    Ich ahnte bereits tief in mir drin: Ich würde mich von ihr trennen müssen. Aber zum damaligen Zeitpunkt wäre ich tatsächlich lieber gestorben, als ohne sie zu sein.

Hausmannskost
    Warum es zu Hause doch nicht
am schönsten ist
    Nichts wurde gut. Anna hatte gelogen.
    Kaum war ich – nein: waren wir – wieder bei mir zu Hause, fühlte ich mich wie unverdaut ausgespuckt, ausgesetzt in einer unwirklichen Welt. Alles schien mir eine Nummer zu groß, mindestens. Schränke, Wohnung, Leben, Verantwortung. Ich fühlte mich nicht nur allein, sondern zum ersten Mal auch einsam. Und im Stich gelassen. My home is my castle , schoss es mir durch den Kopf – aber ist mein Castle nun eher eine Burg, auf der ich mich sicher fühlen kann, oder eine, in der ich eingekerkert bin?

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