"Dann iss halt was!": Meine Magersucht – wie ich gekämpft habe – wie ich überlebe (German Edition)
betrieben wird, muss mit letzter Konsequenz geschehen: wenn schon magersüchtig, dann aber auch richtig!
Damit liege ich natürlich auch ein bisschen im Trend: Männer wissen heute anders als früher oft nicht, wie und wer sie sein sollen, wofür sie stehen. Männer laufen zwar allgemein seltener Gefahr, an Magersucht zu erkranken, weil das idealisierte Körperbild beim Mann in der Regel kein schmales, dünnes, sondern ein muskulöses, kräftiges ist. Aber wie gesagt, Ideal- und Selbstbilder unterliegen ständigen Veränderungen, und zudem gibt es ja diese Alles-für-einen-guten-Zweck-Magersucht: die Sportanorexie.
Ein weiteres Problem bei männlichen Magersüchtigen, und einer der Gründe für dieses Buch, ist, dass Männer mit ihrem Leiden nicht zum Arzt gehen. Wir suchen viel zu oft keine Hilfe, oder erst viel zu spät. Wir warten und hoffen auf Besserung. Selbst wenn wir das Problem in seiner Schwere erkennen. Ich habe bis kurz vor einem Multiorganversagen gewartet. Es ist nichts, worauf ich stolz bin. »Hilfe« rufen, Hilfe suchen, das bedarf Kraft; still zu erdulden und mit hoher Leidenschaft zu leiden, das ist letzlich nichts anderes als Feigheit.
Und weil ich gerade dabei bin, noch dies zum Begriff, der irreführend ist und wohl dafür verantwortlich, dass diese Kranheit nicht als solche wahrgenommen wird. Insbesondere vom Umfeld. Wie kann Nicht-Essen eine Sucht sein? Ein Bedürfnis? Eine Obesssion? Die Magersucht ist nicht das, was wir gemeinhin unter einer Sucht verstehen. Sie hat nichts zu tun mit dem übermäßigen Konsum von Stoffen und Giften wie Alkohol oder Nikotin oder Kokain. Essen ist ja für mich kein Suchtmittel. Im Gegenteil. Der Begriff kommt wohl eher aus der Ecke »Magersiechtum«. Aber eine Suchtkomponente hat das Ganze, das kann ich Ihnen versichern. Dieser unwiderstehliche Kick, dünner geworden zu sein und immer dünner werden zu können, ist mir noch sehr gut in Erinnerung, nein, er ist gegenwärtig. Dieses innerliche Hochgefühl, wenn wieder ein paar Gramm weniger auf der Waage angezeigt werden. Dieses Hungern auf den einen erlösenden Zeitpunkt hin, wenn die Essensaufnahme ansteht. Dann fällt vieles ab und baut sich umgehend wieder auf: War’s zu viel? War’s das Richtige? Und wieder dreht sich das Hirn nur um das eine. Es ist allein schon eine verdammte Sucht, an sein gestörtes Verhältnis zum Essen unablässig denken zu müssen. Und zugegeben: Die akribische Kalorienzählerei hat auch etwas von einem Junkie, der nachrechnet, wie viel Kohle er für den nächsten Schuss benötigt.
Am Ende ist es egal, was ausschlaggebend ist – ob nun Sucht, verzerrte Selbstwahrnehmung, das kranke Ideal von Schlankheit oder der Kontrollwahn, Druck der Gesellschaft, Perfektionismus, Zwangshandlungen – alles zusammen ergibt den tödlichen Mix.
Und das Kränkste am Kranken ist: Ich weiß das alles – kann aber trotzdem nicht einfach so etwas ändern. Auch wenn ich den Ernst meiner Lage erkenne und die Absurdität meiner Fett-Phobie noch so klar vor Augen habe, kann ich mich aus der Umklammerung meiner eigenen, kranken Schlankheits-Ideologie nicht befreien. Das sagt mir jeder Therapeut: Diese verzerrte Wahrnehmung meiner selbst und der Welt ist ganz tief eingesickert, unter das volle Bewusstsein, in dessen völliger Klarheit ich diese Zeilen schreibe. Das kann ich nur in jahrelanger Therapiearbeit mühsam in den Griff bekommen – und selbst dann, dessen bin ich mir sehr sicher, wird es wieder aufflackern. So wie ein ehemaliger Raucher nie mehr zum Nichraucher werden kann, weil er einmal von dem Gift nippte und weiß, wie es wirken kann, zumindest in der Einbildung.
Was tatsächlich hilft, ist sich einzulassen, sich zu öffnen, nicht zu verschließen, zu reden, nicht totzuschweigen. Expertenrat einzuholen und anzunehmen. Therapie zu wagen im Sinn von inhaltsvollen, eher freundschaftlich geführten Gesprächen. Sich beraten, nicht bevormunden zu lassen. Wege gezeigt zu bekommen. Gehen kann man sie nur selbst. Und sich dabei auch nicht entmutigen zu lassen, wenn der erste nicht der beste Therapeut ist. Es ist fast wie in einer Beziehung. Aber was heißt fast? Es ist eine sehr innige Beziehung. Drum prüfe, mit wem man sich verbinde. Beziehungen, in denen Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit herrschen, sind das Allerwichtigste. Essstörungen und gerade Magersucht machen die Betroffenen heimlich und in wachsender Isolation mit sich selbst aus. In einer Konsequenz, die dazu führt, dass man sich vom
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