"Dann iss halt was!": Meine Magersucht – wie ich gekämpft habe – wie ich überlebe (German Edition)
aller Essgestörten, zumindest derer, die sich behandeln lassen –, auf einen 43-jährigen Mann nicht besonders gut eingestellt ist. Mein Denken, meine Lebenserfahrung und meine Perspektiven hatten mit denen dieser jungen Frauen so gut wie keinerlei Deckungsgleichheit. Bis auf die Vorliebe für Magerquark, Light-Produkte und kleine kindische Tricksereien, natürlich. Mein Alter und mein Geschlecht waren den Verantwortlichen vor der Aufnahme bekannt, ein wenig mehr darüber nachdenken und reden hätte man vorher können.
Immerhin: Ich habe dort viel gelernt über die Magersucht.
Ich bin Ihnen ja ohnehin noch eine Antwort schuldig, eine Antwort auf die Frage, was Magersucht denn eigentlich nun ist. Darum lasse ich den Trott weg und gebe mal etwas vom Gelernten weiter. Wie gesagt, es bräuchte wahrscheinlich mehr Seiten, als dieses Buch umfasst, um die Sache in der nötigen Breite und Tiefe zu beschreiben. Aber ein paar Zahlen und Fakten will ich Ihnen nicht vorenthalten.
Um eines noch einmal ganz klar zu sagen: Magersucht heißt nicht einfach die totale Abwesenheit von Nahrung im Leben des Kranken. Im Gegenteil. Essen ist mein Hauptlebensinhalt – genauer gesagt die geistige Auseinandersetzung damit. Das ist eines der gemeinsamen Merkmale aller Magersüchtigen. Die ritualisierte Kontrolle und die dauernde Beschäftigung mit der Auswahl nicht dick machender, ungefährlicher Lebensmittel ist bei uns allen der Alltag. Ich zum Beispiel fahre 20 Kilometer, um einen Joghurt mit zwei Kalorien weniger pro 100 Gramm zu bekommen. Der Fünf-Liter-Eimer von der Metro mit 0,1 Prozent ist übrigens der beste, dünn wie Wasser. Ständig rechne ich nach, was ich gegessen habe oder im Begriff bin zu essen. Manchmal denke ich, ich ernähre mich mehr von Nährwertangaben auf den Packungen als von deren Inhalt. Die zumindest sind garantiert fett- und kalorienfrei.
Etwa 100 000 Deutsche leiden an Magersucht, ein Zehntel von ihnen sind Männer, die Dunkelziffer ist jedoch extrem hoch. Die Zahl der an Anorexia leidenden Männer ist dabei in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen. Die Erkrankung gehört wie Fettsucht oder Bulimie zu den Essstörungen. Um auch das ganz klar zu sagen: Bulimisch war ich nie. Ich bin nicht der Typ, der sich zum Üben den Finger in den Hals steckt und am Ende ganz automatisch ausspuckt, was er in sich hineingestopft hat. Ich bin eher der Typ, der Rad fährt bis zum Umfallen und sich danach mit einem Teller voller Leere belohnt. Aber für Typen wie mich gibt es da ja zum Glück eine Erweiterung der Angebotspalette. Männer neigen eher dazu, extrem viel Sport zu treiben, um abzunehmen, darum sind wir, wie bereits erwähnt, auch in viel größerer Gefahr, in die Sportanorexie abzugleiten. Also die Magersucht durch körperliche Überanstrengung in Kombination mit Nahrungsverzicht. Sporthungern. Es ist kein Zufall, dass die wenigen bekannten Fälle männlicher Magersucht unter Leistungssportlern auftraten, noch dazu in Sportarten, in denen das Gewicht eine Rolle spielt. Am meisten bekannt ist in der Hinsicht wohl der erfolgreiche Skispringer Sven Hannawald. Hätte mir das während meiner Zeit bei der Telekom und in der Welt des Radsports mal jemand gesagt. Denn auch die bloße Nähe zu einer solchen Art des Leistungssports dreht an den Stellschrauben im Kopf, ohne dass wir es merken. Was wir sehen, was wir erleben, was uns vorgelebt wird – das macht uns mindestens so sehr aus wie das, was in uns steckt. Darum sind ja auch Magermodels so gefährlich.
Noch ein interessanter Aspekt: Nicht von ungefähr haben viele magersüchtige Männer, genau wie ich, früher mal an mehr oder weniger extremem Übergewicht gelitten. Das ist alles andere als widersinnig – vorausgesetzt der Betroffene nimmt irgendwann stark ab. Wer einmal die Erfahrung macht, dass der Verlust von Gewicht ein Leben extrem verändert, kann schlechter mit dem Abnehmen aufhören. Das kann ich nur bestätigen. Den Kick vergisst keiner.
Krank statt schlank werden Sie, wenn Sie dem eigenen Spiegelbild nicht mehr glauben. Es heißt, die allgemeine Selbstwahrnehmung von Magersüchtigen ist hochgradig gestört, oft ist die Rede von einer »Körperschemastörung«. Das heißt, der oder die Magersüchtige sieht Körperzonen unförmiger und dicker, als sie eigentlich sind. Das ist dann wie beim Wetterbericht: Synchron zur »gefühlten Temperatur« gibt es bei Magersüchtigen so eine Art »gefühltes Gewicht«. Die Vorhersage ist da allerdings viel
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