"Dann iss halt was!": Meine Magersucht – wie ich gekämpft habe – wie ich überlebe (German Edition)
– 1800 bis 2100 Kalorien am Tag führen? Eine Therapeuten-Fantasie. Eine Christian-Utopie.
Insofern scheint mir das größte Problem bei Einrichtungen dieser Art der Mangel an Antworten auf die letztlich entscheidende Frage zu sein: Was kommt danach? Wohin nach der Klinik? Wie könnte es aussehen, das Wandeln zwischen den Welten, zwischen den Extremen? Es gibt viel zu wenige Einrichtungen, die sich mit dem Thema »Nachsorge, betreutes Wohnen, Auffangen, leichter(er) Übergang« in das wieder freie Leben beschäftigen. Noch dazu für Männer. Das Vorhandene als Angebot zu bezeichnen wäre ein Irr-Witz. Dabei ist genau dies so unendlich wichtig: dass es ein Haus gibt, in dem die Leute tagsüber betreut werden, Teilzeit zumindest, es muss ja gar kein komplett betreutes Wohnen sein. Einfach ein Ort, an dem man nach dem Klinikaufenthalt aufgefangen und langsam in den Alltag zurückgeführt wird.
Mir ging es ja so weit ganz gut. Sicherlich konnte ich vieles allein und selbstbestimmt schaffen. Aber so richtig zunehmen? Nein, Leute, das klappt so schnell nicht. Und zu dem ohnehin zerrütteten Verhältnis zum Essen kommen noch diese Zwänge hinzu. Es gab Mitpatienten, die allein deshalb schon nichts essen konnten, weil sie ihre Teller, Bestecke, Töpfe, Pfannen und Gläser nicht schmutzig machen konnten. Der Gang in die Klinik war da im wahrsten Wortsinn der einzige Ausweg. Und plötzlich fiel mir auf, dass ich ganz unbewusst seit Jahren auch stets das Gleiche benutzte. Immerhin hatte ich mir aber eine Art Altgeschirr definiert. Doch auch ich hütete das Neue, denn ich kaufte ständig welches nach. Stellte es in den Schrank und vergaß, dass ich es hatte. Es war sicher verstaut, und wenn ich es mal brauchte, dann war es da. Irgendwo in den Bäuchen der Hängeschränke, den Tiefen der Apothekerschubladen oder den Regalen der Vorratskammer.
Sooo regelmäßig, wie ich es andere und damit auch irgendwie mich gerne glauben machte, aß und esse ich dann nämlich auch wieder nicht. Das eben ist die Gefahr zu Hause, noch mehr als auf den Zimmern in der Klinik: Sorgt keiner für Disziplin, bescheißt du nur – und, wie immer, vor allem nur einen Menschen: dich selbst.
Es fehlt einfach jemand, der ab und zu da ist, der ansprechbar ist, den Schaden reguliert und minimiert, der Ahnung hat und sich auskennt und einen im Alltag begleitet, der eben nicht Klinik-Alltag sein darf. Wer lebt schon in einer Klinik? Wir alle leben zu Hause, auch ich lebe zu Hause – aber es ist schwer, ganz ohne professionellen Beistand.
Ich hatte nur Anna – und deren Meinung zum Thema »Nachbetreuung« können Sie sich vorstellen.
Du willst das doch jetzt nicht wirklich alles essen, oder?! Weniger geht immer. Jedes Gramm zu viel!
Aber was half alles Lamentieren? Also tat ich, was ich von Mama gelernt hatte: Ich riss mich zusammen. Wer A sagt, muss auch B sagen. Wer nach Hause will, muss es dort auch aushalten. Selbst wenn ihm vor Einsamkeit und Angst die Decke auf den Kopf fällt.
Vielleicht war es auch diesem Umstand geschuldet, dass ich mir einfach Menschen ins Haus holte, von morgens bis abends. Per Knopfdruck. Die Menschen wurden mir mehr und mehr vertraut. Sie kamen zu mir via Radio, Fernsehen oder Zeitschriften. Und kurz nach meiner Rückkehr sorgte ja die Fußball-Weltmeisterschaft für Zerstreuung. Unterhaltsame gar.
So schleppte ich mich durch die ersten Wochen. Einerseits nervte das Alleine-klarkommen-Müssen. Andererseits gab es auch Hilfe, die keine war – wo es dann letztlich ohne Hilfe besser wurde. Natürlich hatte ich mich schon vor Prien um eine Therapie gekümmert, ich musste das ja tun. Die Therapeutin war jene, die damals bescheinigte, dass in meinem Oberstübchen dann doch noch einige Lichter brennen und ich nicht gar so umnachtet war, wie manche gedacht hatten. Sie vermutete – zurecht –, dass ich auch ihr eine Rolle vorspielte, weil ich wusste, was sie von mir hören wollte, was die Ämter von mir hören wollten, um mir nicht meine Eigenständigkeit zu nehmen. Ich fühlte mich verfolgt: Alle hatten ja nur das eine im Sinn, mir einzureden, dass ich krank bin. Sie wollten mich mästen und mir zu diesem Behuf sogar einen Vormund servieren. Die Therapie tat mir gut, auch wenn es mir immer wieder montags davor graute, den Weg gen Königstein anzutreten. Vom Parkplatz über die Straße, den hohen Bordstein hoch, was mir nicht immer unfallfrei gelang, dann die schwere Tür aufdrücken und in Super-Zeitlupe die Treppen
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