"Dann iss halt was!": Meine Magersucht – wie ich gekämpft habe – wie ich überlebe (German Edition)
begehrte in sein Reich. Ich klopfte, trat durch die Tür, sah Jan strampelnd auf dem Bike sitzend. Vor ihm saßen die, die immer da saßen, die sich über Jan Ullrich definierten. Die wichtig waren, weil er es war. Seine engsten Vertrauten: Masseurin Birgit Krohme und Mentor Rudy Pevenage. Dass er suspendiert sei, nicht fahren könne und es die einzig mögliche Entscheidung gewesen war, sagte ich ihm. Er hörte es, aber er verstand das alles nicht. In der Form seines Lebens sei er, und: »Ich werde morgen starten!« Ich sagte ihm noch einmal, dass dies unmöglich sei, und ich sagte ihm auch, warum. Er erfuhr so von den konkreten Vorwürfen, den Verdächtigungen. Jan trat rein und stritt ab. In meiner Hilflosigkeit schlug ich vor, eine Art Schnelltest zu machen, irgendwie ad hoc zu beweisen, dass er unschuldig ist. Die beiden Zuhörer schwiegen. Was sollte die Masseurin auch sagen? Und Pevenage? Er hatte tags zuvor schon geschworen, als Eisenga und ich ihn befragt hatten, im dunklen Speisesaal des »Au Boeuf«. Er hatte uns ein Märchen aufgetischt. Wir ahnten es.
Ich verließ den Raum, in dem noch immer die Frage nach diesem Schnellest stand. Sie wurde bald beantwortet. Am Nachmittag erschien Jan mit seinem mittlerweile eingetroffenen Manager Wolfgang Strohband. Er hatte bereits die Anwälte seiner Wahl konsultiert. Jetzt ging alles ganz schnell: Ich saß noch mit Ullrich und Strohband zusammen, wir regelten die offizielle Sprache. Dann kam der Moment, der seitdem zigmal gesendet wurde: Schnell raus, die Treppen hinunter, vor die Kameras, Ullrichs erstes und einziges Statement. Dass es das Schlimmste sei, was ihm je passiert ist, dass er sich nun erst einmal zurückziehe und dann seine Unschuld beweisen wolle … und ab durch die Mitte der wartenden Journalisten. Jan kletterte in den silberfarbenen Audi und verließ Blaesheim, die Tour de France, den Radsport. Es war das letzte Mal, dass wir uns sahen.
Bis heute überlege ich, ob es eine Alternative zu unserem, zu meinem Handeln gegeben hätte. Ich sehe keine. Wie sagte Teamsprecher Stefan Wagner, der im Gegensatz zu mir lieber einmal länger nachdachte, eher er sprach, treffend: »Die Faktenlage widerspricht den Unschuldsbeteuerungen von Jan Ullrich so stark, dass wir handeln mussten, um unserem Grundsatz vom sauberen Sport noch folgen zu können.« Durch den 2011 gefällten Urteilsspruch des CAS , der Ullrich wegen Dopings verurteilte und sperrte, fühlte ich mich allerdings auch nicht bestätigt. Ich hatte nie über ihn als Doper oder Radfahrer zu Gericht gesessen. Ich habe Schaden von meinem Arbeitgeber abwenden wollen – und dazu hatte ich keine andere Möglichkeit. Zumal in dieser Branche auch nie von »Wissen« die Rede sein konnte. Man ahnt, vermutet. Alles andere ist Spekulation, weil alles andere hinter verschlossenen Türen mit sich oder dem engsten aller engen Vertrauten ausgemacht wird. Es gab später hanebüchene Vorwürfe, die nur die formulieren können, die von Abläufen in einem Radteam nicht einmal eine Vorstellung haben.
Als alles vorbei war, musste ich vor Ausschüsse und Untersuchungsgremien. Dort saßen Menschen, die nicht einmal rudimentär eine Ahnung davon hatten, was mein Job war, keinen Schimmer davon, wie ein Radteam funktionierte, wie die Infrastruktur rund um so ein Unternehmen aussah. Ohne jeglichen Aufklärungswillen stellten sie pflichtschuldig die falschen Fragen und wollten nur das eine: es lieber nicht so genau wissen. Die, die es treffen sollte, hatte es ja längst getroffen. Wieso also dran rühren? Das eigene Haus schön sauber halten. Am Ende müsste man ja vielleicht selbst noch eine Verantwortung übernehmen. Bloß nicht. Also bitte nur die halbe Wahrheit und nichts als die halbe Wahrheit.
Immerhin hatte ich noch telefonischen Kontakt mit Jan Ullrich. Er hatte das Vertrauen zu mir nicht verloren und ich auch nicht meines in ihn. Zumindest nicht dahingehend, dass er sich nicht noch eines Besseren belehren lassen und sich erklären würde. Der Tross machte Station in Bordeaux, als die Idee reifte, ein TV -Interview zu organisieren. Wenn etwas an den Vorwürfen dran sein sollte, hätten wir das öffentlich machen können. Er hätte eine Sperre bekommen, aber so what ? Er hätte danach weiterfahren können. Wir telefonierten. Er klang interessiert. Wir legten auf. Er wurde anders beraten. Deshalb hat Ullrich recht, wenn er heute erklärt, ihm seien damals die Hände gebunden gewesen. Er hätte auch sagen können: Meine
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