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"Dann iss halt was!": Meine Magersucht – wie ich gekämpft habe – wie ich überlebe (German Edition)

"Dann iss halt was!": Meine Magersucht – wie ich gekämpft habe – wie ich überlebe (German Edition)

Titel: "Dann iss halt was!": Meine Magersucht – wie ich gekämpft habe – wie ich überlebe (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Frommert , Jens Clasen
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Entscheidungen trafen meist andere.
    Ich hätte gern gewusst, wie das alles ausgegangen wäre, wenn er mehr hätte selbst entscheiden können. Wenn er sein eigenes Schicksal hätte beeinflussen können.
    Die Ironie der Geschichte: Für Ullrich war die Zeit der großen Öffentlichkeit erst einmal vorbei. Es wurde über ihn geredet. Für mich ging sie erst los. Ich weiß nicht, wie viele Interviews ich in den folgenden Wochen und Monaten gab – es müssen mehr als 1000 gewesen sein.
    Wenn ich darüber nachdenke, wie das alles so weit kommen konnte mit mir, wie ich immer tiefer in die immer reißendere Spirale der Magersucht hinabgezogen wurde, komme ich immer öfter auf die Idee, dass das alles tatsächlich sehr viel mit meiner Zeit im Team Telekom zu tun hat. Ich will hier keine Schuldzuweisungen verteilen, überhaupt nicht. Ich war freiwillig dort, ich blieb freiwillig und gern. Ich bereue es nicht. Doch diese Zeit des Aufruhrs, diese Phase der absoluten Öffentlichkeit hat in mir etwas verändert.
    Im Rampenlicht zu stehen, Tag für Tag erkannt, gar nach Autogrammen gefragt zu werden, nicht mehr hinter oder neben, sondern permanent vor der Kamera zu stehen, von Objektiven umringt, die wie einäugige Gaffer etwas Neues aus mir herauszugucken versuchten. Die ihre ständigen Begleiter mitbrachten, die Fragensteller mit den Mikrofonarmen. Es war, ich sage das ganz ohne Ironie, eine geile Zeit. Ich ging durch Terminals, und es schallte mir entgegen: »Hallo, Herr Frommert!« Anfangs überlegte ich mir immer: Woher kennen die mich? Irgendwann nahm ich es hin, dass sie mich, aber ich nicht sie kannte. Erst hinterher erkannte ich, wie all das an mir gezehrt hatte. Während ich mittendrin war, flog ich. Ich liebte es und verabscheute es. Es war alles – nur nicht egal.
    Beschimpft, verflucht, gehasst – gemocht, bewundert, befragt, gefragt – es war ein Leben voll von scheinbarer Wichtigkeit, voller Emotionen. Im positiven wie im negativen Sinne. Von der ganzen Doping-Problematik einmal abgesehen: Es war eine intensive Zeit.
    Ich bin morgens von den Leuten vom Frühstücksfernsehen geweckt worden, habe den ganzen Tag Interviews gegeben, bis abends die Leute von den Tagesthemen mir das Schlaflied gesungen haben. Oder ich ihnen. Mal ganz davon abgesehen, dass ich in dieser Zeit nichts gegessen habe, weil ich nie dazu kam, weil einfach keine Zeit war – in den vier Wochen habe ich acht Kilo abgenommen –, war diese absolute Steigerung der Aufmerksamkeit eine Art Power-Potenzierung meiner alten Attraktivitätsformel. Sie erinnern sich?
    Schlank + geistige Leistungsfähigkeit =
attraktiv + anziehend + begehrenswert
    Diese Formel wurde jetzt multipliziert um den Faktor Öffentlichkeit beziehungsweise Teilzeitprominenz . Daher lautete das Ergebnis:
    Superattraktiv!
    Natürlich war ich nicht gleich selbst ein Prominenter, aber wenn sich ein Landei wie ich plötzlich vor Weltöffentlichkeit und Anerkennung nicht mehr retten kann, ist das ein Gefühl wie:
    Ich bin Madonna!
    Nur dass es bei Madonna nicht den ganzen Tag um spanische Ärzte, Zentrifugen, Eigenblut-Doping und immer wieder Ulle, Ulle, Ullrich geht. Ich nahm in totaler Offenheit zu jeder Zeit zu allem Stellung. Und ich bin überzeugt davon, dass ich das mir Mögliche dazu beigesteuert habe, das Image der Telekom auf einem ordentlichen Niveau zu halten. Aber ich sehe mich nicht als Heroen. Habe ich nie. Ich habe meinen Job gemacht – und ja: Es hat mir auch Spaß gemacht. Ich zeigte Ecken und Kanten an Runden Tischen. Lobbyierte in der Politik, saß auf Podien und in Foren, bei Maybrit Illner im Zweiten und Flutlicht im Dritten, im Aufsichtsrat der Nationalen Anti-Doping Agentur (Nada) oder vor Schulklassen und Journalistenkursen. Auch dafür war Jan Ullrich verantwortlich. Ich weiß sehr wohl, wem ich meine Teilzeitprominenz zu verdanken hatte. Mit allen ihren Chancen, Risiken, Neben- und Nachwirkungen.
    Ich wusste schon damals, dass das alles nichts Echtes ist, und letztlich nichts Erstrebenswertes. Vergänglich. Irgendwann würden die Kameras abgestellt werden und sich auf andere richten. Irgendwann würde die Medienkarawane einfach weiterziehen und mich am Wegesrand liegen lassen. Na und? Was war, war. Und es tat gut.
    Ich war so lange unterwegs, bin so weit gereist, habe so viel für so viele Menschen getan, von denen ich – gefühlt und oft auch nachweislich – nie etwas zurückbekommen hatte, da war diese Woge der Wertschätzung, dieser Ansturm der

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