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"Dann iss halt was!": Meine Magersucht – wie ich gekämpft habe – wie ich überlebe (German Edition)

"Dann iss halt was!": Meine Magersucht – wie ich gekämpft habe – wie ich überlebe (German Edition)

Titel: "Dann iss halt was!": Meine Magersucht – wie ich gekämpft habe – wie ich überlebe (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Frommert , Jens Clasen
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einzurollen und die Flyer schnell verschwinden zu lassen. Es galt, alles Spektakuläre, alles Symbolische und Bildhafte – kurz: alles, was in Erinnerung bleiben könnte – zu tilgen und zu vermeiden. Denn auf all diesem Zeug prangte Jan Ullrich, die Ikone, die in wenigen Minuten verblassen würde. Das musste man den TV -Kameras ja nicht noch frei Haus liefern. Und dann: »Wir suspendieren!«
    Es war der Morgen des 30. Juni 2006, ein Freitag. Es war 9.27 Uhr, drei Minuten vor dem Anfang des Endes des deutschen Radsports. Punkt halb zehn ging sie los, die Show: »… liegen uns seit wenigen Minuten neue Erkenntnisse vor, die uns zu dem Schritt zwingen …« Peng! Es war der Startschuss meines Medien-Marathons, der Öffentlichkeit auf dem Präsentierteller zum Fraß vorgeworfen. »Heuchler, Lügner, Blender, Schwätzer, Scheinheiliger …« Es sind Worte, die im Auge des Sturms abprallen und erst nach und nach ins Bewusstsein kommen. Lange nachdem alle Texte geschrieben sind und das Rotlicht der Kameras zum letzten Mal erloschen ist. Doch das würde ich erst in knapp 600 Tagen erfahren.
    Jetzt hieß es zunächst: Augen auf und durch. Die Krise managen, intern wie extern. Zunächst war da viel Schockstarre, die die Journalisten befiel. Nicht wenige, die diese Entscheidung nun gar nicht nachvollziehen konnten. Die Arbeitsgrundlage wurde ihnen gerade vor der Nase weggezogen. Ihre Hierseinsberechtigung war ihnen genommen. Keiner hatte sie geschickt wegen Matthias Kessler, Patrik Sinkewitz, nicht einmal wegen Andreas Klöden und schon gar nicht wegen Serhij Hontschar, der drei Tage lang im Gelben Trikot des Gesamtführenden durch Frankreich radelte. Sie kamen wegen Jan Ullrich, und so war es leicht, zunächst die Story auch als tragisches Schicksal zu verkaufen. Weil das Mitgefühl mindestens so groß war wie die Sympathie. Doping? Ach was! Habt ihr Beweise? Die Chronisten wurden zu Anklägern und Verteidigern in Personalunion. Bei anderen wiederum war der Jagdinstinkt geweckt. Die Story roch nach Geschichteschreiben, nach Profilierung. Egal wie, im Mittelpunkt stand der polarisierende tragische Held und letztlich das Exempel, das an ihm, dem prominentesten der gelisteten Blutspender, statuiert wurde. Keinen hat es auch nur annähernd so hart getroffen.
    Doch ich hatte keinen Sinn für Tragweiten, Fairness oder Ungerechtigkeiten. Keine Zeit, darüber nachzudenken. Alles lief ab wie ein Film, bei dem ich interessierter Zuschauer war. Aber ich war Hauptdarsteller und Statist in einer Person. Die Regie hatten andere. Ich wurde ins Licht gesetzt und in den Schatten gedreht. Rund um die Uhr, ganz nach Gusto. Alles war unwirklich und doch so real. Sie prallten an mir ab, die Drohungen im Internet ebenso wie die Hochzeitsanträge und andere Liebesschwüre. Abgegeben via Mail oder Post, manchmal via Call-Center. Das Grummeln auch aus dem eigenen Lager vernahm ich, es glitt ab. Ich war hoch konzentriert auf mich und meinen Job. Keine Gefühle, nur funktionieren. Keine Zeit für Nervosität. Hätte ich auch nur eine Sekunde darüber nachgedacht, was ich da tat, wer mich dabei so alles beobachtete und was ich so alles hätte falsch machen können und wahrscheinlich auch falsch gemacht habe, ich wäre in die Knie gegangen, vielleicht gar ausgestiegen aus der Tour durch die und in den Medien. Hier ein Interview, da eine interne Entscheidung, dort eine Live-Schalte. Ich hatte das nie vorher gemacht, nicht einmal eine Vorstellung davon gehabt.
    Ich weiß noch, dass ich an diesem »Abend der Entscheidung« im abgeriegelten Hof des »Hotel au Boeuf« in Blaesheim saß. Menschen hingen am Hoftor, in Zweierreihen und in der Hoffnung, einen Blick zu erhaschen, ein Foto zu schießen, einen vor die ewig wachsame Linse zu bekommen, vor das immer offene Mikro. Unpublic viewing. Deutschland spielte sein Viertelfinale gegen Argentinien, am Ende wurden Elfmeter geschossen. Deutschland hatte gewonnen, aber ich hatte sehenden Auges nichts mitbekommen von den Toren in 90 Minuten und vom finalen Shoot-out. Später am Abend dann die Partie Frankreich gegen Brasilien. Dazwischen Tagesschau und ein Brennpunkt . Einer mit mir im Fokus. Keinen Augenblick habe ich gespürt.
    Vielleicht lag es daran, dass ich weniger aus Interesse am Radsport hier war, sondern ein Unternehmen vertrat und dessen Absichten, welche es mit seinem hohen Engagement im Sport, insbesondere im Radsport, verband. Mein Job war es nicht, den sportlichen Erfolg zu begleiten oder ihn gar

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