"Dann iss halt was!": Meine Magersucht – wie ich gekämpft habe – wie ich überlebe (German Edition)
hatte anschauen wollen. Und jetzt? War er tot. Aber ich empfand das anders. Ich wusste: Er war angekommen.
Ich für meinen Teil war für heute zumindest bei der Fähre angekommen. Ich kroch lieber unter Deck. Meine Augen blieben auf der Überfahrt nicht trocken, meine Gedanken sprangen beständig zwischen Vergangenheit und Zukunft hin und her.
Und dann endlich: Langeoog.
Ein Eiland, auf dem ich so viel meiner Kindheit und Jugend gelebt und erlebt hatte. Nächtliche Lausbuben-Touren. Natur und kleine Abenteuer. Und große Gefühle. Für Sabine. Meine einstmals so geliebte Sabine. Die gemeinsame Zeit mit ihr, meiner Traumfrau, die ich mich nie traute anzusprechen – und die doch plötzlich hier war. Mit einem wie mir, einem fetten Buben, dessen Onkel ein Pferdehof auf Langeoog gehörte. Egal, warum sie damals mit mir kam: Diese Glückswelle wollte ich reiten. Ohne jeglichen Hintergedanken. Sie war da, bei mir. Das genügte mir.
Eine andere Erinnerung griff wie eine Hand in die vorherige: die Nacht, in der meine Mutter glaubhaft versicherte, dass sie jeden Augenblick sterben würde. Weshalb dann ich – und letztlich nur ich – vor Angst tausend Tode starb. Ein Sinnbild für unser Verhältnis: Sie rief, ich kam und half. Und nun, da ich glaubte, nicht helfen zu können, niemand würde helfen können – sah ich mein eigenes Leben am seidenen Faden.
Erst am Morgen danach hob sich der Schleier: Meine Mutter war schlicht angetrunken gewesen. Hatte einen Rausch von einem langen, weinbrandseligen Gespräch mit meinem trinkfesten Onkel. Es war die Nacht gewesen, in der beschlossen wurde, dass es bald an mir war, diesen Hof zu erben, die Weiden und Gebäude, weshalb die Erinnerung wahrscheinlich sich auch genau jetzt, bei meiner Rückkehr nach Langeoog, zurückmeldete. Es war dies auch die Nacht, in der noch niemand ahnte, dass mein Onkel noch einmal heiraten und ihn seine Frau noch einmal zum Vater machen würde. Ich war mein Pferdeprinzen-Erbe also schnell wieder los (und war froh darüber).
Zurück an Bord. Das Schiff näherte sich dem Hafen.
Ich war in einer Stimmung, die ich als melancholisch-schön bezeichnen würde – all diese E-Wörter kreisten in mir: Eindrücke, Erinnerungen, Emotionen, Erlebnisse, Erfahrungen, Enttäuschungen.
Dazwischen wieder kritische Gewissenbefragung: Geht es mir nun gut oder nicht? Antwort, aus der Hüfte: Ich weiß es nicht. Ich ließ mich treiben. Meine Aufgabe war es, so sah ich das, herauszufinden, wohin ich trieb. Deshalb war ich dort, am Strand, in den Dünen, im Dorf, in mir.
Nur zum Pferdehof, nein, das schaffte ich nicht. Noch nicht.
Ich hielt Sicherheitsabstand vor meiner eigenen Erinnerung.
Es kamen mir so alberne Fragen ins Hirn geschossen: Was ist Zeit? Wie viel davon bleibt mir, wohin ist sie gegangen, wie will ich die vor mir liegende verbringen?
Seit Ewigkeiten hatte ich das erste Mal – zumindest – das Gefühl, welche zu haben: Zeit. Zeit für mich. Immerhin. Zeit, um Zeit zu haben. Das war der pure Luxus.
Nicht getrieben zu sein, nicht im Hamsterrad zu strampeln. Nicht immer funktionieren zu müssen, so wie in den vergangenen und in den nächsten Wochen.
Teetrinken, Zeitunglesen, Spazierengehen. Nachdenken.
Ich ließ Zeit verrinnen, und das endlich einmal wieder, ohne ein Gefühl von Nutzlosigkeit in mir hochsteigen zu spüren. Ich empfand diese Tage als (wieder)gefundene Zeit. Wo nur war sie auf der Strecke geblieben?
Eine Erkenntnis dieser Tage: Es war gut, nicht zu verdrängen, sondern zuzulassen, aufzuarbeiten. Keine Ahnung, ob es mir gelang. Wahrscheinlich nicht, nicht so bald, nicht so schnell. Zu flüchtig waren die Gedanken. Ein Meer voller Emotionen, auf dem die Insel Sicherheit brachte – aber Rettung? Immerhin war ein Anfang gemacht.
Ich pflegte meine Rituale. Aufstehen, Sport, Brötchen holen, Essen, Laufen, Trinken. Die Pfeiler, auf denen ein jeder Tag stand, sie blieben stabil, sie wurden um kein Jota verändert. Nur die Zwischenmahlzeit, der Gefühlssnack wurde ein anderer.
Mein Mobiltelefon war der einzige Kontakt zum Festland. Nach Hause telefonierte ich aber nur selten. Dort verhandelte ein guter Freund gerade die Immobiliensache »Armsheim«. Es zeichnete sich ab, dass es nicht klappen würde. Die Verhandlungen liefen zäh. Zunächst enttäuschte mich der Gedanke, das wohl nicht bekommen zu können, was ich bekommen wollte. Aber schließlich: »Wir lassen es« – die Absage waren meine ersten Worte, nachdem ich den Gipfel
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