"Dann iss halt was!": Meine Magersucht – wie ich gekämpft habe – wie ich überlebe (German Edition)
sofort noch intensiver kümmern. Das ist das Schöne am Kopf-frei-Kriegen: Danach ist auf einmal viel klarer, was das Wichtigste ist. Es ist schlicht das, was beim Wieder-Einräumen des Kopfes am meisten hervorsticht oder am lautesten »Hier!« schreit.
Ich fand schon sehr bald eine Psychologin, deren Name klang wie ein raffinierter Nachtisch: Jocelyne Reich-Soufflet. Das hätte mich vielleicht abschrecken sollen – aber das tat es nicht.
Zum Glück.
Denn diese Frau war ein Volltreffer. Sie ist es!
Kompetent, pointiert, interessiert – brillant.
Schon die ersten Kontakte waren großartig. Sie brachten mir binnen einer Stunde mehr Aha-Gefühle als acht Wochen Prien.
Genau: Prien. Wenn ich nur daran denke, was sie über meine Zeit dort gesagt hat.
»Um Himmels willen!«, sagte sie. Ihre Analyse war ein Volltreffer und deckte sich mit meinen Eindrücken: Ein Klinikbetrieb mit klarem Therapie-Konzept und auf Kleine-Mädchen-die-nix-essen-Verhalten abgestimmten Regeln, die wenig Flexibilität zulassen. Und die es quasi unmöglich machen, auf Leute einzugehen, die nicht in dieses Raster passen. Sie sagte das nicht vorwurfsvoll. Es ist eben so. Warum drumherum schwadronieren? »Ein 43 Jahre alter magersüchtiger Mann macht Angst«, sagte sie. »Er bringt die Routine völlig durcheinander.« Auch ihre. Und in dem, was folgen musste, waren wir uns auch einig: Der Außenseiter musste angepasst werden. Koste es, was es wolle. Von Individualität waren dort nicht einmal Spurenelemente erwünscht – sofern sie nicht ins Raster passte. Ich trug zwar Mädchenjeans in Größe 26 – das heißt aber nicht, dass mir auch eine Mädchentherapie passte. Über all dies einigten wir uns in den ersten zehn Minuten, und ich wusste: Bei dieser Frau war ich an der richtigen Adresse. Alleine die selbstgeschossenen Bilder aus ihrer französischen Heimat an der Wand sagten mir: Diese Frau hat den Blick für das Wesentliche, für die Details. Sie hat so viel Lust auf Leben und so viel Liebe dafür. Und sie kann so klar sein. So uninterpretierbar. Wir begannen im Herbst 2010 ein Gespräch, das wir heute noch weiterführen. Sie hat mich dorthin gebracht, wo ich heute bin. Zurück ins Leben, auch wenn ich noch einige Umwege zu gehen hatte, bis ich ankam.
Doch ich wusste, ich hatte meine Begleiterin gefunden. Auch darum wollte ich mir besondere Disziplin auferlegen, was die Besuche bei ihr anging. Montag sollte fortan mein Therapie-Tag sein, ich würde diese Termine einhalten – komme, was da wolle. Und wer kam und wollte schon am ersten Montag in der neuen Zeitrechnung etwas von mir?
»Christian, kannst du …?«
»Mama. Heute ist Montag. Du, ich habe wenig Zeit, ich muss zur …«
»Keine Zeit? O.k., danke sehr.«
»Ja, aber …« – »Nee, schon gut …«
Aufgelegt.
Essen unter Freunden
Alleine essen macht nicht dick
Zuhause war es immer noch am stillsten. Eigentlich ideal, um zu schlafen. Aber da ist seit Jahren schon diese Unruhe in mir, wie ein unhörbares Ticken, das mir jede Nacht zur Qual macht. Denn ich habe nie die Verwegenheit, den Mut zu sagen: Ach scheiß drauf, dann machst du halt so lange durch, bis du umfällst. So etwas tut man ja nicht. Also lege ich mich immer brav hin, irgendwann um Mitternacht, wenn die Schmerzen und die Mattigkeit des Körpers den rastlosen Geist leichter überzeugen können – und wenn der Morgen nicht mehr so fern scheint. Und dann liege ich meist wach. So auch in dieser Nacht. Ich lag im Bett, konnte nicht schlafen und tat, was ein Rastloser im Bett tut: in Gedanken rotieren. Ich wühlte in meinen Erinnerungen, in der Vergangenheit. Noch schlimmer: Ich wühlte in den Menschen aus meiner Vergangenheit – und sah dabei alle Verletzungen, die sie mir zugefügt hatten, aber auch die – noch viel schlimmer –, die ich ihnen zugemutet hatte.
Ich versuchte, mir über Freunde klar zu werden.
War da noch jemand? Wenn ja, wer war noch da und wer nicht mehr? Wer war gegangen, wer geblieben? Geblieben waren nur wenige. Viele waren fort, manche schon lange. Da waren einige, die sich zu Anfang eher als irrlichternde Panikbegleiter hervortaten und sich dann in Windeseile abgesetzt hatten. Die hatten mehr Interesse an mir als Phänomen, als Symbol für etwas, das sie so noch nicht kannten. »Magersucht beim Mann – wusste gar nicht, dass es so was gibt.« »Alter, hast du gesehen, wie dünn der ist?« Als der Hype sich verloren hatte und sich bei mir nichts tat, als alles immer nur schlimmer und
Weitere Kostenlose Bücher