"Dann iss halt was!": Meine Magersucht – wie ich gekämpft habe – wie ich überlebe (German Edition)
dass ich litt.
Ich hielt seine Hand.
Das bleibt.
Mein Vater ist tot.
Niemand möchte diesen Satz je sagen, nie schreiben. Egal wie alt er war, egal, wie erfüllt sein Leben, egal wie groß die Gnade, nach langem Leiden erlöst zu werden. Es ist ein furchtbarer Satz. Nur wenige sind schlimmer.
Sein Tod machte mich stärker. Natürlich funktionierte ich, alleine deshalb, weil meine Mutter es von diesem Tag an nicht mehr tat. Als sei sie mitgestorben. Weg war das Selbstvertrauen, verloren der Mut. Sie war hilflos. Sie gab alle Verantwortung ab. Sie überhöhte und verklärte. Sie dramatisierte und phantasierte. Ich war bisweilen überrascht, wie sie über den Tod dachte – und das als gläubige Christin. Sie war tief verbittert. Und sie hatte ein schier unendliches Mitleid. Mit sich vor allem.
Ich war ohne Groll. Es war sein Wunsch, es war seine Erlösung. Es war Würde, die ihn sich wegwünschen ließ. Und er ging.
Wer noch blieb, war – Anna.
Das verdammte Miststück.
Wie hatte ich sie satt! Aber sie war nicht totzukriegen.
Ich wollte ihr entfliehen, nun immer mehr. Auch weil mein Vater es so gewollt hätte. Nach seinem Tod wuchs meine Abscheu dieser einst so Geliebten auf ein bisher ungekanntes Maß. Sie widerte mich an. Sie kotzte mich an. Ich wollte sie loswerden, wollte weg von ihr.
Ich war reif für die Insel.
Ich beschloss, endlich mal wieder nach Langeoog zu fahren, früher einmal so etwas wie ein zweites Zuhause.
Es wurde schon grau draußen. Herbstgrau. Der Sommer war schnell vergangen, leider. Er hatte mir Kraft gegeben, die Wärme baute mich auf. Mehr jedenfalls als der dürre Essensplan aus Prien, den ich bereits nach meinem Geschmack modifiziert hatte.
Besser essen reicht eben nicht, um besser zu leben.
Bei allem Siechtum war mir auch aufgefallen: Noch immer war ich vor allem für andere da. Da war zunächst meine Arbeit, dann die Rundumversorgung meiner Mutter, emotional wie administrativ. Immer wieder rief sie an. Sie stellte gar keine direkten Forderungen. Es war schlimmer. Sie sagte mir quasi, was sie nicht machen könne, oder vor was es ihr »graue«. Ich hatte verstanden. Im Nichtaussprechen erteilte sie mir klare Befehle: Fahr mich hierhin, hol mir das ab, bring mir jenes vorbei. Sie ignorierte dabei natürlich, dass ich mindestens genau so viel Hilfe brauchte, dass ich eigentlich auch jemanden benötigte, der mich durch die Gegend kutschierte und meine Einkäufe trug.
Aber ich war auch selbst schuld daran, denn ich machte ja alles und half ihr, vor allem beim Ignorieren, indem ich so tat, als wenn nichts wäre. Das hatte mit meiner Natur zu tun: Nur wenn ich auf Hochtouren lief, war ich in meinem Element. Luft zu holen gehörte bei mir nie dazu.
Ich musste also jetzt endlich einmal etwas nur für mich machen. Musste mich selbst dazu zwingen. Deshalb also ab auf die Insel.
Ich war gespannt, was sie mit mir machte, die Gewalt der Erinnerung. Würde sie über mich hereinbrechen wie eine Flut – oder war es mit Gefühlen eher wieder Ebbe, wie so oft in den hungerbetäubten Monaten zuvor? Die Erinnerungen an die unbeschwerten Zeiten dort waren natürlich immer da – das Ausruhen, das unbändige Toben, die unendlich kostbaren Momente mit meiner (natürlich platonisch gebliebenen) Jugendliebe Sabine – aber würden die Erinnerungen auch wach?
Die Fahrt zur Fähre löste etwas aus, das spürte ich schon einmal. Kaum an der Fähre angekommen, hatte ich das Gefühl: Es ist bisweilen schön, wenn sich nichts verändert, sich nicht alles dreht, sondern in seinem alten Trott weiterläuft. Tag für Tag, Jahr für Jahr. Da, der Hafen, das Teehaus, die Inselbahn. Warum war ich so lange nicht hier gewesen?
Ich hörte das Geklapper von Pferdehufen, das sonore Summen der E-Karren. Jeder Laut, jedes Bild, jeder Grashalm weckte in mir Erinnerungen, jetzt schon. Ich war aufgewühlt, durcheinander und dennoch sehr bei mir.
Meine Gedanken eilten in die Vergangenheit. Wo nur war ich falsch abgebogen? Musste das alles so kommen? Stets hatte ich das Gefühl, meine Ziele zu erreichen. Meist schneller, als ich es für möglich hielt. So viele Fragen, so viele Gedanken. Was würde werden? Morgen, in Zukunft? In einem Leben, das ich künftig ohne meinen Vater erleben würde? Eine Säule, ein Anker weniger im Leben.
Ein Mann, der nicht mehr konnte, der erlöst wurde, der zum Glück so friedlich einschlief. Ich war froh, dieses Bild auf ewig in meinem Herzen tragen zu dürfen. Ein Bild, das ich nie
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