"Dann iss halt was!": Meine Magersucht – wie ich gekämpft habe – wie ich überlebe (German Edition)
erklommen hatte. Ich stand auf der Spitze der höchsten Erhebung der Insel, der Melkhörndüne. Rund 20 Meter hoch, und ich schaute auf den Meeresspiegel da unten im Tal.
Ich spürte das Salz auf den Lippen, und es schmeckte mir, ausnahmsweise.
Dann wieder Gedanken an Krankheit und Tod.
Vor nahezu einem Jahr hatte kein Arzt auch nur einen Pfifferling auf mich gegeben. Der Tod war nahe – und er war mir egal.
Ich suchte das Grab meines Onkels auf dem Dünenfriedhof, fand es nur nach langem Abschreiten der Reihen. Ein schmuckloses Stück Rasen. Sinnbildlich für ein Leben voller Widersprüche, Kämpfe gegen sich und andere. Allesamt hatte er sie verloren. Ihm blieb nichts, kein Grabstein, keine Erinnerung, nicht einmal eine Blume. Die Leere empfand ich als Ausdruck seiner Härte. Ich beschloss, ihm einen Grabstein mit Gravur zu kaufen. Es war das Mindeste, was doch niemand für ihn tun wollte.
Dann wieder weiter, durch Gestrüpp ans Wasser. Erinnerung, alte Heimat.
Ich denke: Du hast Schiffbruch erlitten. Aber du bist nicht gestrandet. Ganz so, wie es Marta und ihre Jungs von »Die Happy« singen in einer ihrer wundervollen Balladen. »Stranded« – ich hörte sie oft in diesen Tagen. Ich wollte die Seele baumeln, die Gedanken fahren und die Tränen laufen lassen. Egal, wie stürmisch es war, meine Lebens-Rettungsboote, sie blieben. Freunde, Kollegen, Vertraute. Sie begleiteten mich, warfen mir Westen zu, Ringe. Noch immer. Obwohl ich immer wieder abtauchte.
Auf Langeoog habe ich ein Stück weit gelernt, mit Ruhe zu leben. Ich habe gelernt, sie zu ertragen. Erkannt, dass es mir möglich ist, dem Aktionismus auch einmal zu widerstehen. Ich habe gemerkt, dass Leben auch schön sein darf. Immer wieder saß ich im Café Leiß oder im He’Tant, genoss meinen Sanddorntee aus Tassen mit dünnen Wänden, hörte die unbeschwerten Kompositionen von Wolfgang Amadeus, den Jazz von Melody Gardot, schaute aufs Meer aus der Strandhalle heraus. Ich sah versöhnlich und zuversichtlich in die Welt. Nur um den Ponyhof machte ich noch immer einen großen Bogen.
Ich habe viel erkannt bei meinen Wanderungen und meinen Teestündchen. Aber vieles dort verstand ich auch nicht – oder besser: Was ich sah, zeigte mir, dass ich etwas in mir nicht verstand. Ich sah so viele Übergewichtige um mich herum. Sie stopften. Sie genossen, lachten, lebten. Ich ertappte mich dabei, wie ich sie beneidete. Ich als Leichter machte es mir im Gegensatz zu den Schweren schwer, ich nahm Mikromengen Sanddornsaft, ungezuckert, in meinen Tee, der natürlich nur mit Süßstoff gesüßt war. Die fülligen Menschen in den Cafés wirkten so unbeschwert und lebensfroh. Sie aßen Mengen, die ich nicht in einer Woche zu mir nahm, und ich hielt mich schon für mutig, Bruchteile eines Saftes zu 26 Kalorien auf 100 Milliliter zu teelöffeln.
Die Kalorien im Leben – sie waren ungerecht verteilt.
Der letzte Bummel über das Eiland brachte dann doch noch einen kleinen Erinnerungsschock: In einem Jackengeschäft stand ich plötzlich der Besitzerin gegenüber – es war meine Ex…Tante. Sie stand hinter der Kassentheke, ich davor. Ein seltsames Bild: Doppelte Verlegenheit mit Dame. Wir fanden keine Worte. Sie sagte nicht, dass ich dünn aussähe. Aber sie dachte es. Das sah ich. Mir egal. Hauptsache, sie sagte nicht, dass ich dick aussähe. Wir unterhielten uns. Wir tauschten uns aus. Es war angenehm. Ich komme noch mal rein, sagte ich, und ich würde Wort halten. Sie verkaufte Jacken. Sie gefielen mir. Also kaufte ich Jacken. Man muss ja nicht gleich alle Laster über Bord werfen.
Blauer Himmel über dem Wattenmeer, Vögel, die sich im Formationsflug übten.
Ich reiste ab, verließ dieses Idyll.
Im Gepäck schöne Tage und viele Fragen, die ich schmutzwäschegleich in den Alltag transportierte. Was hatte sie mir gebracht, diese Woche Langeoog? Freude, Enttäuschung, Lachen, Tränen, Schwermut, Ausgelassenheit – Langeoog, der Ort einstiger Unbeschwertheit war zum Katalysator geworden. Zu einem Ort zwischen Leben und Tod. Zwischen mir, meinem Vater, meinem Onkel, Vergangenheit und Zukunft.
Vergangenheits-Zukunfts-Gegenwartsbewältigung.
Ich würde es spüren, später. Dessen war ich sicher. Ich würde wiederkommen. Wahrscheinlich.
Eine Entscheidung traf ich sogleich, noch vor der Heimreise: Ich brauchte wieder Ansprache. Eine Folgetherapie zu Prien, die mich wirklich aufrichtete, nach der ich mich ausrichten konnte – das fehlte mir, darum würde ich mich
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