"Dann iss halt was!": Meine Magersucht – wie ich gekämpft habe – wie ich überlebe (German Edition)
Tür allemal vorgezogen. Denn es gab Menschen, die ich gesucht habe, als es mir wieder besser ging. Ich habe sie nicht mehr gefunden.
Ich hatte es meinen Freunden aber wirklich auch schwer gemacht. Mit Leichtigkeit. Da waren weiß Gott viele, die ich weggebissen habe in meinem Wahn, in meiner Fixierung auf diese Pseudo-Geliebte. Ja, an dieser Stelle passt das Bild von der Geliebten Anna wieder perfekt. Wohl jeder hatte in seinem Freundeskreis mal jemanden, der wegen einer neuen Liebe alle anderen sozialen Kontakte herunterfährt. Zum einen, weil er glaubt, er braucht niemand anderen mehr. Der Spruch fiel mir ein: Von der Luft und der Liebe leben. Haha, wie treffend. Genau das hatte ich auch getan, wobei: Liebe war wenig dabei, nur Luft stand viel auf dem Speiseplan. Zum anderen igelt sich so jemand aber auch ein, weil er in sich die Angst trägt, dass ein Freund oder eine Freundin wohlmeinend diese irrwitzige Beziehung in Frage stellen könnte. Weil jemand ja wagen könnte, seine liebste Lebenslüge als solche zu entlarven. So jemand darf natürlich gar nicht erst vorgelassen werden, dem darf gar keine Gelegenheit gegeben werden, seine erst vorsichtigen, dann nachbohrenden Fragen zu stellen.
Ich habe wertvolle, herzensgute, mir in Liebe zugewandte Menschen brüskiert mit meinen Launen, sie genervt mit meinem durchschaubaren Abstreiten des Offensichtlichen (»Wieso? Ich esse doch!«), meinem Verweigern von letztlich doch so dringend benötigter Hilfe. Um es auf gut Deutsch zu sagen: Wie ein mürrischer, alter Hund habe ich sie mit ständig lautem Gebell vom Hof gejagt. Und ich war zu stolz, zu stur, zu überzeugt davon, dass ich recht habe und alle anderen im Unrecht sind, um den Canossagang anzutreten. Vielleicht war es mir auch einfach zu peinlich, denn eines der am schwierigsten auszusprechenden Worte deutscher Sprache ist noch immer: Entschuldige.
Nur wenige Menschen, sehr wenige, hielten das und mich aus und blieben. Sie blickten hinter diesen gestachelten Schutzschild aus Angst und Krankheit. Und sie halfen mir bis nahezu zur Selbstaufgabe. Vor allem Steffi.
Nie werde ich vergessen, was sie alles für mich getan hat. Wie könnte ich das je? Sie hat mich gerettet und dabei beschämt. Es ist mir auch heute noch unmöglich, die passenden Worte dafür zu finden, was diese Frau für mich getan hat, obwohl ich auch sie bisweilen wie den letzten Dreck behandelte. Ich schämte mich deswegen, aber ich hatte keine Kraft, über meinen Schatten zu springen. Die schlechte Laune zu leben, ihr freien Lauf zu lassen war einfacher, als gegen sie anzugehen. Sie sagte nur: »Christian, ich weiß, das bist nicht du.«
Steffi hatte für mich eine Art mobilen Pflegedienst eingerichtet – sie selbst war dieser Pflegedienst. In der schlimmsten Phase von Weihnachten 2009 bis Ende 2010 war sie quasi rund um die Uhr für mich da. Auf Abruf bereit. Und wir hatten ein festes Date: Das war immer wieder sonntags. Wenn ich überhaupt einen wiederkehrenden sozialen Kontakt hatte, ein Zusammensein-Ritual, dann dieses: Steffi kam am Sonntag gegen Spätnachmittag. Anfangs natürlich erst, nachdem ich gegessen hatte. Es war undenkbar, dass sich Menschen in meiner näheren Umgebung aufhielten, wenn ich aß. Jeder Blick, jedes Luftholen, jede Bewegung würde von mir sofort als Kommentar dazu aufgefasst werden, wie oder was ich aß. Jede Reaktion auf meine Vorräte, meine Nahrungsportionen, das gesamte Essens-Procedere hätte zu unweigerlichen Gewitterstürmen geführt. Also kam sie, wenn ich mit dem Essen fertig war. Später ließ ich es zu, dass sie sich zumindest in der Wohnung aufhielt, wenn ich aß – in einem anderen Zimmer, wenn es ging. Zumindest aber mir den Rücken zukehrend. Wehe, sie stand an der Theke der offenen Küche oder an meinem Siemens-Edelstahl-Kühlschrank, meinem Allerheiligsten, dem Tresor, Annas Schrein, dem Hüter des Magerquark-Grals. In dessen Bauch bewahrte ich kronjuwelengleich meine mageren Schätze auf. Oder anders: Wenn meine Beziehung zu Anna eine Art Liebesbeziehung war, dann war der Kühlschrank so etwas wie unser Schlafzimmer. Was darin geschieht, geht schließlich niemanden etwas an. Übertrat irgendwer, das galt auch für Steffi, nur ansatzweise und unabsichtlich dieses Gebot aller Gebote – »Du sollst nicht schauen in Frommerts kühlen Schrank« –, wurde ich fuchsteufelswild, war unfassbar aufbrausend und herrschte ihn an wie ein Teufel.
Aber in der Regel klappte alles ganz gut, und so klappte es
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