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"Dann iss halt was!": Meine Magersucht – wie ich gekämpft habe – wie ich überlebe (German Edition)

"Dann iss halt was!": Meine Magersucht – wie ich gekämpft habe – wie ich überlebe (German Edition)

Titel: "Dann iss halt was!": Meine Magersucht – wie ich gekämpft habe – wie ich überlebe (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Frommert , Jens Clasen
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vermutlich zuletzt deshalb, weil Christian sich per Mail bei diesen Freunden meldete und versuchte, abzuwiegeln. Im Nachhinein erscheint mir die zufällige Tatsache, dass er diese Mail am 1. April verschickte, wie eine Ironie des Schicksals.
    Christians Zustand verschlechterte sich weiterhin deutlich sichtbar. Die Haare wurden dünner und auch weniger, er ging extrem langsam, sprach langsamer und weiterhin ohne Kraft in der Stimme. Die Haut wurde insgesamt dünner und empfindlicher, und jede noch so kleine Unachtsamkeit seinerseits verursachte kleine Wunden, die nicht gut heilten. Dazu kam Wasser in den Beinen, das Treppensteigen wurde für ihn zur Qual. Wenn wir ins Kino gingen und Christian während der Vorstellung mal auf die Toilette gehen musste, hatte ich Sorge, dass er die schwere Tür zu den Kinosälen gar nicht mehr aufbekäme.
    Mitte April 2009 fand eine Untersuchung in der Praxis von Christians Schwager statt. Die Ergebnisse waren – alles andere wäre ein Wunder gewesen – niederschmetternd. Es bestand dringender Handlungsbedarf, und einen Monat später kam der Moment, der vieles einfacher machte: Christian sprach das erste Mal von Essstörung und Magersucht. Endlich war das kein Tabuthema mehr. Ich war sehr erleichtert. Ich gestand ihm, dass ich schon in einer Beratungsstelle war, und ich gab ihm die Kontaktdaten zu den beiden Zentren für Essstörungen in Frankfurt.
    Die Zeit lief, aber es tat sich wenig Sichtbares. Christian veränderte sein Essverhalten nicht, also nahm er weiter ab. Meine Angst wurde immer größer, denn Christian hatte einen BMI, der lebensbedrohlich ist. Und ich wusste, dass viele Magersüchtige im Schlaf sterben, weil das durch die Anorexia gequälte Herz, das ohnehin schon verlangsamt schlägt, nachts noch langsamer wird – und manchmal ganz aufhört zu schlagen. Ich stand ständig unter Strom, nahm ganz gegen meine Prinzipien leichte Beruhigungsmittel, damit ich die Tage durchstand und meiner Arbeit nachgehen konnte. Ich hangelte mich von Lebenszeichen zu Lebenszeichen, und es war schwer, dabei nicht aufdringlich und »übergriffig« zu werden.
    Im Dezember 2009 flog Christian, der trotz all dieser gesundheitlichen Einschränkungen und der extremen Schwäche weiter arbeitete, beruflich nach Südafrika. Zurück an den Ort, wo dieser Schub der Essstörung begonnen hatte. Ich brachte ihn zum Flughafen und musste zusehen, wie er durch die Sicherheitssperre ging, als ginge er zum Schafott. Ich war mir nicht sicher, ob ich ihn lebend wiedersehen würde. Und es ging ihm in Südafrika auch sehr schlecht. Nach dieser Reise waren die vom Schwager ermittelten Werte so bedrohlich, dass ein sofortiger Klinikaufenthalt notwendig wurde, um Christian am Leben zu erhalten. Ich denke, dass alle, die in Sorge um ihn waren, sehr viel Hoffnung in diesen Klinikaufenthalt steckten. Doch er war mehr als kontraproduktiv, im Grunde eher ein Desaster. Die Klinik beschränkte sich darauf, viele Untersuchungen durchzuführen, und sie schaffte es nicht einmal, auf die speziellen Bedürfnisse eines magersüchtigen männlichen Patienten mittleren Alters einzugehen. Und so nahm Christian, für mich unfassbar, dort noch weiter ab. Immerhin veränderte dieser Schock sein Essverhalten aus seiner Sicht sicher drastisch, aus meiner Sicht eher nur wenig. Aber immerhin, es veränderte sich etwas.
    Er begann wieder, Kohlehydrate zu essen.
    Es war ein langer, kalter und schneereicher Winter, was für die ewig frierenden Anorektiker sehr hart ist. Die Hände und Füße sind immer extrem kalt. Die Kälte laugt aus. Zu allem Überfluss gab es wieder eine Dienstreise, dieses Mal nach Kanada. Wieder brachte ich Christian zum Flughafen, wieder war ich mir nicht sicher, ob er die Anstrengungen dieser Reise überstehen würde. Er schaffte es wieder, ich nahm es auf wie ein Wunder.
    Mit seinem Geburtstag im Februar 2010 kam der längst überfällige Entschluss, in eine Spezialklinik zu gehen. Es gibt nicht allzu viele gute Kliniken für Essstörungen, einen guten Ruf hat die Klinik Roseneck in Prien. Ende April war es so weit, und wieder gab es in mir viel Hoffnung, dass die Experten etwas bewegen könnten, Christian helfen könnten. Wir packten gemeinsam für den Aufenthalt, und ich werde niemals den Moment vergessen, als wir uns am Tisch gegenübersaßen, alles war fertig, und Christian auf mich so schwach und traurig, ja verzweifelt wirkte, dass ich befürchtete, er würde die Nacht vor der Aufnahme in die Klinik nicht

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