"Dann iss halt was!": Meine Magersucht – wie ich gekämpft habe – wie ich überlebe (German Edition)
Krankheit miterlebt hat. Haut- und knochennah, sozusagen. Ich hatte sie eines Tages gebeten, ihre Sicht von damals aufzuschreiben – sie ist eine versierte Schreiberin und vor allem Beobachterin. Wie ich es von ihr gewohnt bin, lieferte sie prompt. Ich hatte es befürchtet. Monatelang lag die Datei ungeöffnet auf meinem Rechner. Ich hatte Angst davor, Wahrheiten zu lesen, weil ich wusste, dass sie unprätentiös, klar und wahrhaftig rüberkommen würden. Ihre Worte lösen in mir noch immer einen Schock aus:
Christians Veränderung bemerkte ich schon, bevor seine Krankheit für mich sichtbar war. Sie begann mit einer Zeit des Schweigens. Zehn lange Monate hatte ich Christian nicht gesehen, war unser Kontakt für unsere Verhältnisse eher spärlich.
Ich wusste, dass Christian ab dem Spätsommer 2008 mehrere Monate in Südafrika sein würde. Wir hatten wenig Kontakt in dieser Zeit. Ende Dezember meldete er sich, für mich überraschend, mit dem Vorschlag, dass wir uns auf einen Kaffee treffen könnten. Dabei sagte er mir auch, dass er sehr stark abgenommen habe. Ich war also nicht unvorbereitet, als wir uns trafen. Aber als ich ihn dann gesehen habe, war ich erschüttert. An meiner Seite saß ein schwer kranker Mann, der nur noch ein Schatten seiner selbst war. Aus einem gut gelaunten, selbstsicheren Menschen, der stets eine kraftvolle Stimme hatte, war ein magerer, unsicherer Mann geworden, der mit brüchiger Stimme sprach. Ich habe gleich gesagt, dass er schwer krank ist und sich dringend Hilfe suchen muss. Aber Christian versuchte mich zu beruhigen, indem er sich selbst täuschte. Er glaubte, die Krankheit selbst »in den Griff« zu bekommen, weil er doch »gerne lebt« und auch »gerne isst«, wie er sagte. Ich war ratlos und konnte erst einmal nur genau hinschauen, versuchen, ihm wieder näherzukommen, ihn an seine Worte zu erinnern. Ich habe mich auf ihn und seine Anorexia eingelassen. Ich hatte keine Ahnung, was das genau bedeutet. Aber ich wollte und will Christian nicht verlieren.
Einen guten Monat später feierte Christian seinen Geburtstag in Hamburg. Dort sah ich ihn das nächste Mal. Er war noch dünner geworden, seine Gesichtsfarbe war besorgniserregend gelblich, seine Stimme noch leiser geworden. Der sehr rasante Verlauf der Krankheit wirkte auf mich wie ein Altern im Zeitraffer.
Christian arbeitete wie immer nahezu besessen weiter, war getrieben, gönnte sich keine Ruhe.
Ich war ratlos. Und suchte meinerseits Hilfe. Mitte März hatte ich einen Termin in einem Zentrum für Essstörungen. Ich wollte wissen, was ich für Christian tun konnte, was ich vor allem auf keinen Fall tun durfte. Gelesen hatte ich zu diesem Zeitpunkt schon viel über die Magersucht, aber die meisten Ratgeber wenden sich an die Eltern minderjähriger Mädchen. Ich weiß jetzt, dass »Anna« die Suchtkrankheit mit der höchsten Mortalitätsrate ist. Ihre Folgen sind schrecklich, die Menschen zerstören sich selbst, und sie glauben bei allem auch noch, die Kontrolle über ihren Körper zu haben. Die Beraterin klärte mich schonungslos auf. Ich wollte Christian nicht verlieren, musste also extrem vorsichtig sein, denn Magersüchtige brechen schnell Kontakte ab, machen dicht und lassen niemanden mehr an sich heran. Das durfte nicht passieren, das hätte ich mir nie verziehen.
Doch gleich mein erster Ansatz, Gelerntes anzuwenden, endete fast in einer Katastrophe für mich. Mein Versuch, mit Christian über seine Zukunft und damit über seinen derzeitigen Zustand zu reden, wurde von ihm sehr brüsk abgewehrt, und meine Angst um ihn, die ich ihm mitteilte, wurde lächerlich gemacht. Das war ein sehr dunkler Abend in meinem Leben. Im Rückblick weiß ich, dass ich es in diesem Moment zum ersten Mal direkt mit seiner Anna zu tun bekam und nicht mehr mit Christian selbst. Sie ist viel stärker als er. Er vertraut ihr mehr als sich selbst und den Menschen, die ihm zugewandt sind. Es ist für diese Menschen unglaublich schwer, damit umzugehen.
Das war die Zeit, in der Freunde sich zu Rettungsaktionen zusammenschlossen, sich mit seiner Schwester in Verbindung setzten, die wiederum mit einem Arzt verheiratet ist, dessen Diagnostik und medizinischen Fähigkeiten Christian vertraut. Ich tat Dinge, die mir meiner Meinung nach eigentlich nicht zustehen, rief die Schwester an und bat sie dringend, sich auch Rat zu holen, damit die Hilfe gut gesteuert und Rücksprache mit Fachleuten gehalten werden könnte. Doch diese Aktion verpuffte schnell,
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