Dann mach ich eben Schluss
fast nie Hemden getragen hat. Dafür lehnen zwei Plastiksäcke für die Altkleidersammlung am Schrank, einer sorgfältig verschlossen, mit Paketband zugeklebt, der andere noch offen, darin müssen seine T-Shirts und Sweater liegen. Natalie ist versucht, darin zu wühlen, irgendein getragenes Kleidungsstück herauszuzerren und ihr Gesicht darin zu vergraben, ihn noch einmal zu riechen, ihren Bruder; solange die Sachen noch nicht gewaschen sind, ist sein Duft noch nicht verflogen. Sie tut es nicht, weil Jonathan hinter ihr steht, auÃerdem würde ihre Mutter nie etwas in die Kleidersammlung geben, was nicht vorher in der Waschmaschine war. Natalie schlieÃt die Schranktüren, stopft Socken zurück, die aus den Schubladen der Kommode schauen, schiebt Papiere und Stifte auf Maxâ Schreibtisch hin und her, schreibt mit dem Zeigefinger seinen Namen in den Staub auf dem zugeklappten Deckel seines Laptops. Das Fenster in der Erkerwand steht auf Kippstellung, Natalie schlieÃt es, Maxâ Geruch soll noch nicht verfliegen, er verfliegt viel zu schnell, sie weiÃ, dass sie ihn nicht halten kann und sie weiÃ, dass es keinen Sinn hat, sein Zimmer zu bewahren wie den Raum eines Museums. Als sie den Vorhang, der sich an der Schreibtischkante gestaucht hat, zurechtrücken will, fällt ihr Blick in den breiten Spalt zwischen Tisch und Wand. Natalie stutzt. Ihr Herz beginnt heftig zu schlagen, das ist doch Max´ Zeichenblock, denkt sie; wieso liegt der hier in der Ecke statt auf dem Schreibtisch oder wenigstens in einem Schrank oder Karton. Der Block liegt da, als wäre er vom Tisch gerutscht, das muss Max doch bemerkt haben, gerade seine Bilder hätte er niemals achtlos am Boden liegen lassen, schon gar nicht in irgendeiner Ecke, selbst wenn er nicht mehr malen wollte. Der Block liegt gebogen und ist nicht einmal zugeklappt, sondern das Deckblatt noch nach hinten geschlagen, in einer Ecke hat sich ein überdimensionales »Eselsohr« gebildet, das alle Blätter dahinter in Mitleidenschaft gezogen hat wie durch einen StoÃ. Natalie steht wie erstarrt.
»Was hast du?«, fragt Jonathan, der noch immer ein wenig ratlos im Zimmer steht, offenbar nicht wagt, sich hinzusetzen. Jetzt tritt er näher, Natalie spürt seine Gegenwart im Rücken, die sie ein wenig beruhigt. Sie spürt, dass sie gleich eine Entdeckung machen wird, die vieles neu aufwühlt. Etwas, das neue Seiten von Max zeigen und ein anderes Licht auf die Ereignisse der letzten Monate werfen wird, für alle.
»Sein Skizzenblock«, bringt sie mühsam hervor, ihre Stimme klingt heiser, sie räuspert sich. »Irgendwas stimmt da nicht.«
Jonathan blickt von hinten über Natalies Schulter, seine Hand hat er ganz leicht um ihre Taille gelegt.
»Sieht aus, als ob er ihn durchs ganze Zimmer geschleudert hat«, stellt er fest. »Und hier ist er gelandet. Soll ich ihn für dich holen?«
Natalie nickt, und Jonathan schiebt sie sanft zur Seite, ehe er sich bückt und den Block aufhebt.
»Komm«, sagt er. »Gehen wir zurück in dein Zimmer. Du solltest sitzen, während du das siehst..«
7.
Sie sitzen wieder auf Natalies Bett, die Tür haben sie hinter sich geschlossen. Zum Glück ist nur die Mutter zu Hause, sie wird nicht hereinkommen, irgendwann heute früh hat sie zugegeben, sie freue sich, wenn Natalie sich ein wenig ablenke. Sie hat sich so dicht neben Jonathan gesetzt, dass ihre Knie einander berühren. Ihr gefällt es, seine Wärme zu spüren, sein knochiges Bein an ihrem, sie starrt auf den ausgewaschenen Stoff seiner Hose. Er hält den Skizzenblock auf seinen Knien, die Rückseite nach oben.
»Schaffst du es?«, fragt er und sieht sie an, Natalie spürt, dass er keine Beteuerungen gelten lassen wird, die er nicht glaubt. Er will ihr nichts zumuten, was sie nicht erträgt. Sie zittert ein wenig, warum hat Max das getan, was ist passiert, dass er sogar seinen Skizzenblock durchs Zimmer gepfeffert hat? Das ist doch nicht Max, der eigentlich immer ruhig geblieben ist, unauffällig, keinen Ãrger wollte, immer ein schlechtes Gewissen hatte, wenn er nur versehentlich etwas gesagt hat, was einem anderen aufstieÃ. So richtig wütend hat sie ihn nie erlebt, im Gegenteil; oft genug hat Natalie versucht, ihren Bruder darin zu bestärken, auch mal aufzubrausen. Offenbar war er aufgebraust und niemand hatte es mitbekommen. Nicht rechtzeitig.
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