Dann mach ich eben Schluss
Wunder. Dürfen wir also in seinem Zimmer danach suchen?«
»Ich weià nicht.« Die Mutter lehnt sich gegen den Türrahmen. »Eigentlich müsste ich erst mal deinen Vater fragen, meinst du nicht?«
»Papa.« Natalie sieht ihre Mutter an, als hätte sie vorgeschlagen, ihren Vater bei einem Bauchtanzkurs anzumelden. »Papa wird nichts lieber wollen, als dass Maxâ Zeichenkram so schnell wie möglich verschwindet. Er konnte es doch nie leiden, wenn Max gemalt hat, für ihn gibt es ja immer nur Lernen.«
»So darfst du das nicht sehen«, widerspricht ihre Mutter; Natalie hört an ihrer Stimme und sieht an ihren Augen, dass ihr das Thema unangenehm ist, vor dem fremden Gast, aber auch Max wegen. Sie selbst hingegen spürt etwas wie eine winzige Erleichterung, ich bin nicht allein schuld, denkt sie; wäre Papa nicht Max gegenüber so hart gewesen, was das Malen betrifft, könnte er noch leben. Niemand macht aus einem einzigen Grund allein Schluss.
»Trotzdem«, beharrt sie. »Nach den Sachen fragen wird er auch nicht. Jonathan ist Kunststudent und kann das alles gut gebrauchen. Also?«
Ihre Mutter nickt nur leicht, dann dreht sie sich um und geht, Natalie ahnt, dass sie wieder gegen ihre Tränen ankämpfen muss. Auch sie fürchtet sich davor, wirklich mit Jonathan in Maxâ Zimmer zu gehen und seine Schränke und Regale zu durchsuchen. Gemeinsam mit den Eltern ist sie dabei noch nicht weit gekommen, es kostete zu viel Kraft. Jetzt ist Jonathan da, und es gibt einen konkreten Grund, anzufangen. Gleich. Noch nicht jetzt. Sie bemerkt, dass Jonathans Blick auf ihr Saxofon fällt.
»Würdest du mir was vorspielen?«, fragt er. »Natürlich nur, wenn es deine Mutter nicht stört.«
Das Saxofon. Sie hätte Max nicht abwimmeln sollen. Seitdem erinnert das Saxofon sie jedes Mal nur daran, nur daran. Sie war schon kurz davor, es einfach aus dem Fenster zu werfen.
Jonathan will sie spielen hören. Um Zeit zu gewinnen, noch nicht in Maxâ Zimmer gehen zu müssen. Auf Maxâ Beerdigung hat Natalie nicht gespielt. Noch etwas unschlüssig steht sie auf und geht zu ihrem CD-Regal, sucht ein paar Playbacks heraus und legt eines ein.
»Kennst du bestimmt«, sagt sie, und tatsächlich wippt Jonathan gleich bei den ersten Takten des Intros mit dem FuÃ, noch ehe Natalie mit dem Saxofon einsetzt. Careless Whisper von George Michael passt jetzt, es passt nicht nur zur Trennung zweier Liebender, nicht nur zum Betrug, zum Seitensprung. Es passt auch jetzt, guilty feet have got no rhythm , am Anfang verspielt sie sich noch mehrmals hintereinander, aber dann vergisst Natalie, dass sie überhaupt spielt, sie ist selbst dieses Lied, dieses Solo, spielt auch die Gesangsmelodie durch, spielt ihre Trauer, ihre Schuld und ihre Verzweiflung, alles legt sie in dieses Saxofonsolo, sieht ihr Zimmer nicht mehr und nicht Jonathan, ihr Saxofon weint mit ihr um Max, um alles, was sie mit ihm verpasst hat und darum, dass er nicht wiederkommt, dass es jetzt ein nie mehr gibt, time can never mend . Manche Wunden können nicht durch die Zeit geheilt werden. Aber wodurch sonst?
Als sie das Lied beendet hat, verursacht die plötzliche Stille im Raum Herzklopfen bei Natalie. Behutsam legt sie ihr Instrument auf den Schreibtisch, muss erst wieder zu sich kommen. Verlegen sieht sie Jonathan an, wartet auf seine Reaktion, wartet nicht. Sie hat nicht für Jonathan gespielt, sondern für sich selbst und für Max. Nein, für Jonathan auch.
»Das war toll«, flüstert er, Natalie stellt überrascht fest, dass etwas in seinen Augen glitzert wie schmelzende Eiszapfen in der Sonne. Tränen.
»Ach, das spiele ich schon ewig«, winkt sie ab. »Gehen wir jetzt rüber?«
In Maxâ Zimmer verfällt Natalie in hektische Betriebsamkeit, vermeidet es, stillzustehen und sich umzusehen. Man kann kaum treten, es sieht aus wie mitten in einem Umzug, den niemand fortsetzt. Ihre Eltern haben in den letzten Tagen immer wieder begonnen, Maxâ Sachen auszuräumen, ihre Mutter will alles an wohltätige Einrichtungen spenden, aber sie hat jedes Mal nach kurzer Zeit aufhören müssen, weil der Schmerz sie lähmte. Halb befüllte Pappkartons stehen auf dem Parkettboden, Maxâ Kleiderschrank steht offen, zum Teil hängen leere Bügel trostlos darin, auf anderen hängen noch seine Hemden, alle noch wie neu, weil er
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