Dann mach ich eben Schluss
Genau wie beim letzten Mal.
»Guck du zuerst«, bittet sie Jonathan und kneift die Augen zu. Hört, wie er zögernd den Block umdreht und die erste Seite aufschlägt. Vernimmt die Stille, als er die Zeichnung darauf betrachtet, es erscheint ihr endlos, bis er weiterblättert. Lauscht seinem Atem, der meist ruhig und gleichmäÃig geht, aber manchmal stockt; dann betrachtet er wieder ein neues Bild. Schlägt Bögen zurück, wieder nach vorn. Klappt den Block schlieÃlich ganz zu. Natalie blinzelt durch ihre Wimpern, sieht Jonathans Hand sich bewegen, bemerkt aus dem Augenwinkel, wie sich seine Brust strafft.
»Was ist drin?«, fragt sie schlieÃlich. »Auf den Bildern, meine ich? Ist es was Schlimmes?«
Jonathan zögert.
»Lauter Personen sind drauf«, antwortet er nach einigen Atemzügen. »Tolle Bilder. Du würdest bestimmt erkennen, wer sie jeweils sind.«
Natalies Herz klopft schneller. »Bin ich auch dabei?«
»Soweit ich es erkennen kann, ja.« Er lacht sogar leise. »Dich hat Max wie eine Art Manga-Figur gezeichnet. Willst du sie sehen?«
Natalie öffnet die Augen, und sofort fällt ihr Blick auf die Zeichnung, die jetzt auf Jonathans Knien liegt. Sie erkennt sich selbst sofort, auch wenn der Manga-Stil alles verfremdet, ihre Augen gröÃer erscheinen lässt, die Figur noch graziler. Trotzdem erkennt sie sich. Max hat sie mit ihrem Saxofon gemalt, auf dem Bild hält sie es in der Hand, die Augen mit erstauntem Blick auf den Betrachter gerichtet. Er hat an alles gedacht, jedes Detail in seine Zeichnung aufgenommen, das typisch für sie ist. Die Nietenlederjacke mit den Fransen am Ãrmel vom Wind leicht aufwärts bewegt, ebenso ihr dunkles Haar, das sie auf dem Bild offen trägt. Die abgeranzte Jeans, ihre robusten Boots und mehrere übereinander gehängte Ketten wirken an der zierlichen Gestalt wie ein Schutzschild, genau wie sie sich selbst darin fühlt, wann immer sie diese Kleider trägt, und Max hat es erkannt, hat Natalie so dargestellt wie er sie wahrgenommen hat und wie sie sich auch selbst wahrnimmt. Dazu das Saxofon, das längst zu ihrer Stimme geworden ist, zumindest in dem Bereich, für den es sonst keine Stimme in ihr gibt, den zarten, empfindsamen Bereich. Die gezeichnete Natalie hält das Instrument auf halber Höhe, als ob sie spielen will, aber doch Zweifel hegt oder auf etwas wartet, unschlüssig ist. Wann hat Max das nur gezeichnet, überlegt sie; an dem Nachmittag, als er den Brief von der Fachoberschule bekommen hat? Oder als er mich gefragt hat, ob ich mit Keep Out auf Pauls Geburtstagsfeier spielen würde?
»Ihr müsst ein tolles Verhältnis zueinander gehabt haben«, bemerkt Jonathan.
Natalie wiegt den Kopf hin und her. »Wie alle Geschwister, schätze ich. Was mich genervt hat, habe ich dir erzählt, und ihn hat bestimmt auch eine Menge gestört. Man denkt nicht darüber nach. Wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte, würde ich â¦Â« Natalie spürt einen Kloà in ihrem Hals aufsteigen, nicht schon wieder, das muss doch mal aufhören, denkt sie. Sie spricht nicht weiter, nur so kann sie verhindern, dass sie wieder weinen muss.
»Kannst du nicht«, beschwört Jonathan sie leise. »Was passiert ist, ist passiert, so furchtbar es auch ist. Aber dieses Bild, was dein Bruder von dir gezeichnet hat, erzählt davon, wie gern er dich hatte. Denk immer daran. Das kann dir keiner mehr nehmen. Willst du, dass ich es für dich heraustrenne, damit du es einrahmen und an die Wand hängen kannst?«
Natalie schüttelt den Kopf.
»Erst die anderen Bilder«, entscheidet sie. »Ich will wissen, wen er noch alles gezeichnet hat.«
»Deine Eltern sind drauf, die habe ich erkannt.« Jonathan schlägt Natalies Bild zurück und gibt so den Blick auf die nächste Seite frei.
»Das ist Paul«, erklärt Natalie düster. »Maxâ bester Freund, wie er leibt und lebt. Ich habe nie verstanden, warum er immer noch mit ihm abgehangen hat. In meinen Augen ist er ein blasierter Lackaffe. Zeig schnell das nächste Bild.«
»Nein, warte.« Jonathan hält das Blatt fest. »Es ist fantastisch gezeichnet, findest du nicht? Ich kann mir Paul genau vorstellen, und so wie Max ihn sieht, passt er auch zu deiner Beschreibung, aber auch wieder nicht. Man sieht, dass Max ihn gut leiden kann und bewundert.«
Nur widerwillig
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