Dann mach ich eben Schluss
innerlich zurückgezogen, sich immer weiter vom Vater entfernt, bestenfalls über Kopfschmerzen geklagt. Nicht den Mut gehabt, einmal aufzubegehren, bis er zum Schluss diesen Alleingang gewagt hat, sich an der Fachoberschule für Gestaltung anzumelden, es war nicht richtig, er hätte es durchkämpfen sollen, statt nach dem Eignungstest angstvoll abzuwarten, ob er angenommen werde, auf ein Wunder hoffend, was die Reaktion des Vaters betrifft.
Einen Augenblick lang hebt sie den Kopf, um nicht länger auf das Bild schauen zu müssen.
»Auf einigen der Skizzen sieht er aber ganz nett aus«, stellt Jonathan fest und deutet auf ein Porträt, auf dem der Vater die Haare lässiger trägt, wie frisch gewaschen und einmal nicht mit Gel in Form gebracht und fixiert, und statt eines gebügelten Hemdes mit Schlips, wie er es bei der Arbeit trägt, ist nur der Rundausschnitt eines T-Shirts oder Sweaters angedeutet. Auch wirken seine Gesichtszüge darauf entspannter, er blickt in die Ferne und lächelt still vor sich hin; auf einem anderen Entwurf zeigt er ein geradezu befreites Lachen.
»Er kann ganz okay sein«, gibt Natalie zu. »Aber mit seinem Leistungsdenken hat er echt âne Macke. Im Grunde hat er Max auf dem Gewissen.«
»Dein Vater hat bestimmt nicht gewollt, dass er sich umbringt.«
»Aber er hat es riskiert, kapierst du das nicht?« Natalie springt auf. »Er hat das Risiko in Kauf genommen, weil er genau gewusst hat, wie viel ihm seine Kunst bedeutet. Nur weil Max sich nicht gewehrt hat, konnte er immer schön weiter auf ihn einhacken, damit er ihm nacheifert, was er sowieso nicht gemacht hat, jedenfalls nicht aus seinem eigenen Willen heraus, seinem Inneren. Guck dir doch sein Gesicht an, man liest doch förmlich Papas Gedanken, wie sich alles nur um Arbeit dreht, um verdammte Zensuren, um das, was angeblich die Zukunft sein soll! Hat Max etwa noch eine Zukunft? Hat er eine?«
»Natalie.«
»Er hat keine, weil er tot ist, kapierst du das? Max ist tot, er kann nicht mehr zeichnen und malen, nicht das werden, was er werden wollte, weil seine Hände, die diese tollen Bilder geschaffen haben, kalt und steif unter der Erde liegen, begreif das doch!«
»Ich habe es längst begriffen. Aber niemand kann mit hundertprozentiger Sicherheit sagen, ob es nicht doch ein Unfall war.«
Natalie stöÃt einen schnaubenden Laut aus, Tränen rinnen über ihr Gesicht und den Hals hinunter, ungeduldig wischt sie sie mit dem Ãrmel ihres Langarmshirts fort.
»Und wenn schon«, stöÃt sie hervor. »Was nützt das jetzt?« Sie schiebt den Block von ihrem SchoÃ. »Ich kann nicht mehr. Lass uns rausgehen. Wir suchen jetzt nach dem Karton mit den Malsachen, und wenn du willst, bringen wir sie gleich zu dir. Danach brauche ich erst mal Abstand.«
Jonathan räuspert sich leise. »Abstand von mir?«, erkundigt er sich mit belegter Stimme.
»Doch nicht von dir!« Durch Natalies Körper geht ein Ruck, sie greift sich in den Nacken, die plötzliche Bewegung hat einen Schmerz in der Halswirbelsäule ausgelöst. »Nein, von dem allem hier. Den Block lasse ich aufgeschlagen hier liegen. Papas Gesicht möchte ich sehen, wenn er ihn findet.«
Jonathan öffnet die Lippen, um etwas zu erwidern, aber Natalie lässt es nicht zu, ein einziger Blick von ihr bringt ihn zum Schweigen; wenigstens darin bin ich meinem Vater ähnlich, durchfährt es sie bitter. Den Karton mit den Mal- und Zeichenutensilien findet sie unter Max´ Bett, er ist noch nicht zugeklebt, also öffnet sie ihn und beugt sich mit Jonathan darüber, die Köpfe so nah beieinander, dass es nur einer leichten Drehung des Halses bedürfte, um sich zu küssen, Natalie wundert sich, dass sie daran überhaupt denkt in diesem Moment, wo sie immer noch weint und eben noch so auÃer sich war.
Im Karton liegt alles noch genau so, wie es auf dem Foto der Kleinanzeige ausgesehen hat; endgültig und zum Postversand bereit. Einen Augenblick lang glaubt Natalie fast, Max hätte eigens für Jonathan alles so sorgfältig verpackt. Er kannte Jonathan nicht. Max hat die Sachen verpackt, weil er mit dem Malen und Zeichnen abgeschlossen hatte. Offensichtlicher ginge es gar nicht. Sie klappt den Deckel wieder zu und schiebt ihn in die dafür vorgesehene Lasche.
»Gehen wir«, bestimmt sie und richtet sich auf. »Trägst du ihn bitte?
Weitere Kostenlose Bücher