Dann mach ich eben Schluss
wirft Natalie erneut einen Blick auf die Zeichnung. Jonathan hat recht, denkt sie. Max hat Pauls immer eine Spur zu strahlendes und dadurch leicht aufgesetzt wirkendes Lächeln genau eingefangen und wiedergegeben, seinen Kurzhaarschnitt mit den lässig in die Stirn fallenden Strähnen, die begeisterten hellen Augen. Er hat ihn aus einer ganz verhaltenen Froschperspektive gezeichnet, sodass der Betrachter gerade noch die Unterseite von Pauls Kinn wahrnimmt, die gesamte Mimik zeigt Pauls Souveränität und seine Heiterkeit, die durch fast nichts zu erschüttern ist.
»Ich würde mich nicht wundern, wenn er auch jetzt noch so grinst«, meint sie dennoch düster. »Max gegenüber hat er immer den GroÃkotz raushängen lassen und so getan, als wäre er der Tollste und Max kriegt nichts auf die Reihe. Wirklich, ich kann ihn nicht sehen. Blätter weiter.«
»Ich bin sicher, dass auch dein Bruder was von dieser Freundschaft hatte«, widerspricht Jonathan und hält das Bild weiter aufgeschlagen. »Sonst hätte er nicht so viele Jahre an ihm festgehalten.« Danach tut er Natalie den Gefallen und blättert weiter, ein blondes Mädchen erscheint.
»Annika«, entfährt es Natalie und starrt fassungslos darauf. »Auch nicht besser.«
Dieses Mal schweigt Jonathan. Natalie kann nicht aufhören, die Zeichnung anzustarren, so genial ist sie. Annikas schmales, ebenmäÃiges Gesicht ist unverkennbar, das lange, dunkelblonde, mit hellen Strähnen aufgepeppte Haar, der etwas abwesende Blick. Abwesend, abweisend.
»Was hat die Kleidung zu bedeuten?«, fragt Jonathan, denn Max hat seine Freundin in einer Art Rüstung gezeichnet, einem Roboter ähnlich, silbern und mit verschraubten, metallenen Gelenken.
»Mir fällt dazu ein Song von Tokio Hotel ein â von denen war ich früher mal ein glühender Fan«, gesteht Natalie mit einem verlegenen Lachen. »Da war ich noch ziemlich klein. Der Song heiÃt Automatisch , und jedes Mal, wenn ich Annika sehe, fällt er mir wieder ein. Offenbar ist es Max genauso gegangen, denn die CD lief vor ein paar Jahren jeden Tag in meinem Zimmer rauf und runter.«
»Singst du mir dieses Automatisch einmal vor?«
»Das kannst du nicht wollen. Aber den Text kriege ich noch zusammen:
So automatisch
Du bist wie âne Maschine
Dein Herz schlägt nicht für mich
So automatisch
Berühren mich
Deine Hände
Spür alles, nur nicht dich
So automatisch
Deine Stimme â elektrisch
Wo bist du, wenn sie spricht?
So automatisch
Wie du sagst, ich bin dir wichtig
wer programmiert dich?
Wenn du lachst, lachst du nicht
Wenn du weinst, weinst du nicht
Wenn du fühlst, fühlst du nichts
Weil du ohne Liebe bist, du bist
Automatisch
Wie automatisch
Renn ich durch alle StraÃen
Und keine führt zu dir
Wie automatisch
Folgen mir deine Schatten
Und greifen kalt nach mir
Du bist wie Ferngesteuert
Statisch und Mechanisch
So automatisch
Dein Blick so leer
Ich kann nicht mehr
Alles an dir
Wie einstudiert
Du stehst vor mir
Und warst nie wirklich hier
»Nicht schlecht«, gibt Jonathan zu. »Hätte ich den Jungs nicht zugetraut. Und so ⦠war sie zu ihm?«
»Entweder zieht sie permanent eine Show ab und ist innen drin ganz anders, oder sie ist einfach eine hohle Nuss.« Natalie blättert weiter, die nächste Zeichnung zeigt ihren Vater. Natalie stockt der Atem. Das ganze Blatt ist voll von ihm, Max hat ihn gespiegelt, jede Mimik von ihm zu Papier gebracht, alle Facetten seines Charakters in verschiedenen, teils unvollständigen Skizzen wiedergegeben. Im Zentrum steht das Gesicht, das die Familie am häufigsten sieht, ein leicht verkniffener, angespannter Zug um die Lippen, die Mundwinkel, und Augen, die Enttäuschung verraten. Wenn sie nur wüsste, worüber er immerzu enttäuscht ist, niemand hat ihn je ge täuscht, nur weil sie alle eben nicht automatisch sind wie das Mädchen aus dem Song.
»Max hat immer, immer, immer versucht, es Papa recht zu machen, aber das ist kaum möglich. Mich lässt er einigermaÃen in Ruhe, aber an ihm hat er sich richtig ausgetobt.« Natalie hält inne, zu schmerzlich steigen die Erinnerungen in ihr auf, sie starrt auf das Bild, Max hat ihn so genau beobachtet, also hätte er ganz anders handeln können, den Vater an seinen Schwächen packen, ihm die Stirn bieten. Stattdessen hat er sich
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