Dann mach ich eben Schluss
Gedanken versunken gewesen und noch nicht ganz wieder da.
»Entschuldigen Sie«, sagt er. »Ich werde ja noch eine ganze Weile nicht in die Schule zurückkehren, da wollte ich Sie noch von einigen meiner Dinge befreien, die hier noch herumliegen. Leider konnte ich nicht mehr öffnen als diese eine Schublade, da der Schlüssel zu den Schränken daheim in meiner Arbeitstasche liegt. Vielleicht können Sie mir weiterhelfen?«
»Selbstverständlich.« Mit festem Schritt tritt Bollschweiler näher, zieht ein Schlüsselbund aus seiner Hosentasche, beugt sich an Brückner vorbei über den Tisch und schlieÃt die Zentralverriegelung des Schreibtisches auf, beginnt selbst darin zu wühlen, hebt einige Ordner und Hefte an, fegt mit der Hand ein paar aus einem Locher gefallene Papierfetzen zusammen. Ganz unten in der Schublade findet er einen Aktendeckel aus hellgelber Pappe. Bollschweiler nimmt ihn in die Hand und klappt ihn auf, hält einen Moment inne, fühlt die Augen des älteren Kollegen, auf sich gerichtet. Vielleicht glaubt er, der Aktendeckel gehöre ihm, diese Art ist im Sekretariat immer vorrätig. Einen Moment lang ist er versucht, ihn rasch verschwinden zu lassen, entscheidet sich jedoch für die Flucht nach vorn.
»Es ist gut, dass sie hier sind«, meint er. »Dann können Sie sich dies hier gleich einmal ansehen. Vorhin in der Dienstbesprechung habe ich gesagt, Maximilian Rothe habe mir anstelle einer schriftlichen Abiturprüfung in Mathematik ein leeres Blatt abgegeben. Das war nur die halbe Wahrheit. Sehen Sie sich das hier an, für mich ist das der Gipfel der Unverschämtheit und Respektlosigkeit. Der eindeutige Beweis dafür, wie ernst er das Abitur genommen hat. Was hätten Sie an meiner Stelle getan? Soll man so einen Schüler noch unterstützen?«
Er hält Brückner eine Zeichnung hin, auf der Bollschweiler selbst zu sehen ist, mit Bleistift gezeichnet, beinahe einer Karikatur gleichkommend. Der Schüler hat ihm die Maske vom Gesicht gerissen. Auf der Zeichnung sieht Bollschweiler den Betrachter mit blassen Augen und einem verächtlichen Blick an, das Kinn leicht hochgereckt. Mit dieser Zeichnung hat er es ausgenutzt, dass er seinen Lehrer an Körperlänge überragte, hat ihn so gezeichnet, wie er ihn immer sah, ein wenig von oben nach unten. Maximilian hat auch die etwas wulstigen Lippen hinbekommen, die abwärts gezogenen Winkel, die sich auch beim Lächeln nie aufrichten. Ihm ist der leicht spöttische Gesichtsausdruck gelungen, aufgeblasen, trotzig und darin erst recht verunsichert wirkend, geradezu ängstlich.
»Er hat nichts gerechnet«, fügt Bollschweiler hinzu. »Nicht eine einzige Aufgabe, nur dieses Geschmiere habe ich von ihm bekommen. Er konnte es nicht, weil er nichts getan hat, weder im Unterricht noch zu Hause! Das allein hätte schon gereicht, aber den Lehrer auf diese Art ins Lächerliche zu ziehen, ist der Gipfel. Das zeigt doch, wie gestört der Junge war. Wer weiÃ, was bei ihm sonst noch alles nicht gestimmt hat, in der Schule bekommen wir nur die Spitze des Eisbergs geliefert. Das können wir gar nicht alles auffangen.« Er wartet ab, bis Brückner die Zeichnung lange genug angesehen hat, will den Aktendeckel wieder zuklappen, doch Brückner greift danach und hält ihn fest.
»Max hatte ein Blackout«, entgegnet er, »das war keine Seltenheit bei ihm. Das haben Sie sicher gemerkt, während Sie Aufsicht führten.«
»Es ist mir keineswegs entgangen«, gibt Bollschweiler zu. »Nicht, dass ich darüber besonders überrascht gewesen wäre.«
»Haben Sie es nicht geschafft, dass er sich halbwegs beruhigen und zumindest einen Teil der Aufgaben bearbeiten konnte?«
»Während der Klausur ist es mir nicht möglich, mit Schülern Gespräche zu führen.«
»Das funktioniert auch nonverbal. Ein aufmunternder Blick, ein gütiges Zuzwinkern mit den Augen, mehr muss es manchmal gar nicht sein, wenn ein Schüler droht zu versagen. Gerade in den Prüfungen sind sie so nervös, das gilt nicht nur für Maximilian. Man muss ihnen die Möglichkeit geben, sich zu besinnen, kurz durchzuatmen. Ihnen zu vermitteln: Komm, das schaffst du, auch wenn du kein As in diesem Fach bist. Das ist ganz wichtig, damit jeder wenigstens ein paar Punkte erreichen kann, die ihn oder sie vor einem totalen Leistungsausfall
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