Dann mach ich eben Schluss
und Musikraum, hier hängen an den Wänden die meisten Zeichnungen Maximilians. Erst wenige Tage vor seinem letzten Gespräch mit dem Schüler hatte er sie noch einmal betrachtet, dennoch kommt es ihm so vor, als sähe er sie zum ersten Mal. Dieser besondere Strich, denkt Brückner; sein Talent, Stimmungen einzusaugen und in seinen Bildern wiederzugeben, die Art, wie er Menschen beobachtet und gespiegelt hat. Erstaunlich für einen Achtzehnjährigen, und so ein Jammer, dass er so unauffällig war, so wenig wahrgenommen wurde. Nicht mehr aus seiner Begabung machen konnte, weil man ihn nicht gelassen hat. Maximilian hätte gewiss eine vielversprechende Zukunft vor sich gehabt.
Mit Tränen in den Augen löst sich Brückner vom letzten Bild und steuert den Kursraum an, in dem er Maximilian unterrichtet hat. Nur zu genau erinnert er sich an das letzte Gespräch mit dem Jungen, an seine Verzweiflung, seine Mutlosigkeit. Den unterschwelligen Zorn auf seinen Vater, sein Gefühl von Ausgeliefertsein ihm gegenüber. Brückner kann es ihm nicht verdenken. Sobald er an seine Unterredung mit Herrn Rothe vor einigen Wochen zurückdenkt, breitet sich auch in ihm wieder ein beklemmendes Gefühl aus, dem er schnell entfliehen muss.
In der Hosentasche tastet er nach dem Generalschlüssel für alle Unterrichtsräume und schlieÃt auf, greift sich an die Brust, als er den Raum betritt, in dem er Maximilian monatelang Tag für Tag unterrichtet hat. Er blickt zu seinem Sitzplatz, dem Stuhl, der wie alle anderen zum Zweck der FuÃbodenreinigung auf den Tisch gestellt ist, der Raum wirkt verwaist ohne die Schüler. Früher hat Brückner solche Tage genossen, ist mitunter nach Ferienbeginn noch ab und an zur Schule gefahren, um die Stille des Gebäudes zu genieÃen, das Schuljahr noch einmal in Gedanken Revue passieren zu lassen, Papiere zu ordnen, den Raum für das neue Schuljahr vorzubereiten. Jetzt hat er das Bedürfnis, etwas von Maximilian zu finden, ein Arbeitsblatt von ihm, seine Handschrift. Er geht zum Lehrertisch und zieht seinen Wildlederblazer aus, ehe er auf dem Drehstuhl Platz nimmt. Nachdem er den leeren Raum minutenlang auf sich wirken lassen hat, zieht er die Schublade auf, die er bestimmt aufgeräumt hätte, wenn er nicht krank geworden wäre. Maximilians letzte Klausur, die er noch selbst korrigiert hat, müsste noch darin liegen, Brückner hatte sie dessen Vater beim Gespräch gezeigt, Herr Rothe hatte darauf bestanden. Zwar hatte Maxâ Vater nichts gefunden, was er an den Aufgabenstellungen hätte beanstanden können, aber er putzte ihn herunter, sprach ihm jegliche Fähigkeiten als Studienrat ab, behauptete, Brückner hätte eine Hochbegabung Maximilians verkannt, andernfalls würde dieser nicht ausgerechnet in dem Fach, das er als Leistungskurs gewählt hätte, so versagen. Eine Dienstaufsichtsbeschwerde wolle er ihm anhängen, drohte Herr Rothe, und er habe keine Scheu, einen derart unfähigen Pseudopädagogen vor der gesamten Lehrerschaft lächerlich zu machen, gegebenenfalls auch vor der Presse.
»Mach dir nichts aus diesem Wichtigtuer, der kann dir gar nichts«, hatte seine Frau am Nachmittag gesagt. Brückner wusste, dass sie recht hatte; er ist einer der erfahrensten Lehrer des Gymnasiums und hat schon viele Schüler zu einem erfolgreich bestandenen Abitur geführt. Zudem ist er bei den jungen Menschen beliebt, und auch Maximilian hat ihm stets Sympathie entgegengebracht. »Er vertraut dir mehr als seinem eigenen Vater«, hatte Marianne es auf den Punkt gebracht. »Traurig eigentlich. Aber so hat er wenigstens eine Person, auf die er sich verlassen kann.«
Es hat nicht gereicht, denkt Brückner; ich bin zu schwach gewesen, habe mich von seinem Vater einschüchtern lassen. Rothe wird triumphiert haben; sag ichâs doch, ein bisschen Gegenwind, schon macht er blau, typische Beamtenmentalität, es weià doch jeder, dass die Krankheit nur vorgeschoben ist. Den ganzen Abend hatte er damals Magendrücken gehabt und in der Nacht kaum schlafen können. Am Wochenende darauf hatte er sich nicht wohlgefühlt, ihm war übel, er wollte es zuerst ignorieren, doch am Samstag war dieses Engegefühl in der Brust hinzugekommen, die Schmerzen, die bis in den Kiefer und die Arme ausstrahlten. Dass er noch lebt, hat er vor allem seiner Frau zu verdanken, die sofort einen Notruf absetzte.
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