Dann mach ich eben Schluss
Veranstaltung im Schulgebäude zu inszenieren, halte ich für unangemessen.«
»Ich halte es auch für das Beste, so rasch wie möglich den Alltag wieder aufzunehmen«, stimmt ihm Frau Liedtke zu. »Das Unglück hat sich nicht direkt an unserer Schule ereignet, also müssen wir auch nicht für alle Zeiten damit in Verbindung gebracht werden. Wenn die Schüler Fragen haben, sind wir da, ansonsten denke ich auch: Die Rückkehr zum Normalbetrieb ist das Beste, was wir tun können.«
»Das empfinde ich als viel zu wenig«, meint Brückner. »Wenn hier gar nichts im Gedenken an Maximilian geschieht, werden sich alle auf seine Schwester Natalie stürzen und sie ausfragen, sobald sie genesen ist und an die Schule zurückkehrt. Sie hat wahrlich genug durchgemacht. Neben dem Verlust ihres Bruders, zu dem sie, soweit ich weiÃ, ein gutes und enges Verhältnis hatte, wurde sie auch selbst schwer verletzt. Ich glaube kaum, dass sie allein den emotionalen Belastungen standhalten könnte, wenn wir ihr nicht zur Seite stehen.«
»Wir?« Bollschweiler hebt die Augenbrauen. »Ich dachte, Sie kehren noch gar nicht an den Arbeitsplatz zurück?«
»Wenn ich im Nachhinein etwas für Maximilian tun kann, das ich zuvor versäumt habe, mache ich es gern.«
»Das ist sehr ehrenwert von Ihnen, Herr Kollege Brückner, Sie sollten jedoch auf Ihre Gesundheit achten. Zudem dürfen Sie während Ihrer Krankschreibung nicht beliebig oft hier in der Schule erscheinen. Schon Ihre Anwesenheit heute ist nicht rechtens, aber wir drücken ausnahmsweise ein Auge zu, weil Ihnen an dem verstorbenen Jungen offenbar gelegen ist«, antwortet Gaedicke. »Um diesen Punkt abzuschlieÃen, schlage ich vor, wir halten am Dienstag um Punkt elf Uhr eine Schweigeminute für Maximilian Rothe, zudem wird im Foyer ein Tisch mit einem Foto des Jungen aufgestellt, dazu ein Kondolenzbuch, in das sich jeder, der möchte, eintragen kann, und später wird es dann den Eltern übergeben. Gegenstimmen?«
Niemand meldet sich.
»Enthaltungen?«
Bollschweiler und Frau Liedtke heben ihre Hände.
»Gut, dann kommen wir zum Tagesordnungspunkt zwei, dem Studientag im September«, fährt Gaedicke fort. »Sie, werter Herr Kollege Brückner, darf ich an dieser Stelle verabschieden; das Protokoll dieser Sitzung wird Ihnen nach Fertigstellung per E-Mail zugeschickt. Hören Sie auf den Rat Ihrer Ãrzte und schonen Sie sich. Auf Wiedersehen.« Er erhebt sich halb von seinem Stuhl und wartet, bis auch Brückner aufgestanden und um den Tisch herumgegangen ist, um ihm die Hand zu schütteln. Irina Melberg gibt ihm mit einer Handbewegung zu verstehen, sie werde ihn später anrufen.
Mit langsamen Schritten verlässt Werner Brückner das Lehrerzimmer. Nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hat, bleibt er einige Atemzüge lang unschlüssig auf dem Flur stehen. Nach Hause gehen möchte er noch nicht, die schmerzliche Erinnerung an seinen Schüler hält ihn in dem Gebäude, in dem er ihn zum letzten Mal gesehen hat. Mit Irina will er noch reden, mit Schindler, dem Musiklehrer, der das Schulorchester mit Natalie Rothe als Saxofonistin leitet. Vielleicht noch einmal in Ruhe mit dem jungen Vertretungslehrer Bollschweiler, der bei ihm einen unangenehmen Eindruck hinterlassen hat. Wenn er sich Max gegenüber so verhalten hat, wie er sich in der Dienstbesprechung darstellte, war er Gift für den Jungen. Ich kann ihm nicht zustimmen; denkt er und beginnt mit bedächtigen Schritten den Flur entlang zu gehen. Sicher sind die Schüler erwachsen, aber man weià doch von sich selbst, dass ein Mensch mit achtzehn Jahren dennoch alles andere als innerlich gefestigt ist. Gerade in der Zeit vor dem Abitur sind viele Jungen und Mädchen von Zukunftsängsten geplagt, wissen noch nicht, wohin ihre Lebensreise einmal gehen soll, die allerwenigsten haben bereits einen Ausbildungs- oder Studienplatz sicher, noch dazu in der Fachrichtung, die sie sich gewünscht haben. Es können Liebeskummer hinzukommen, familiäre Probleme, Stress im Freundeskreis, vielleicht die Führerscheinprüfung, die nicht wenige erst nach mehreren Anläufen bestehen. Man kann als Lehrer nicht so tun, als liefe bei ihnen alles von allein.
Am Ende des langen Ganges drückt Brückner die Glastür zum Treppenhaus auf und geht in die zweite Etage. Hier liegen der Kunst-
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