Danse Macabre
schreiben können, falls sie
ihm doch eingefallen wäre. Dasselbe gilt für die lange, unheimliche und quälende Szene im Wartezimmer des Arztes,
mit der Flannery O’Connors Novelle »Revelation« (dt: »Offenbarung«) beginnt. Außerhalb der Südstaatenphantasie
gibt es solche Wartezimmer nicht; heiliger Jesus, was für eine
Bande.
Ich will damit nur sagen, daß die Südstaatenphantasie
etwas furchteinflößend Üppiges und Fruchtbares hat, was besonders auffällig zu sein scheint, wenn sie sich der gotischen
Form zuwendet.
Der Fall der Harralsons, der ersten Familie, die den Ort
des Bösen in Siddons Roman bewohnt, zeigt deutlich, wie die
Autorin ihre Südstaatenphantasie eingesetzt hat. Pie Harralson, die Chi-Omega-Junior-League-Kindfrau, übt eine ungesunde Anziehungskraft auf ihren Vater aus, einen zähen, cholerischen Mann aus dem »Präriegras-Süden«. Pie scheint sich
bewußt zu sein, daß ihr Ehemann Buddy das Dreieck mit ihr
auf der Spitze und Daddy in einem der unteren Winkel vervollständigt. Sie spielt die beiden gegeneinander aus. Das
Haus selbst ist nur eine weitere Spielfigur in den Liebe-HaßLiebe-Affären, die sie mit ihrem Vater zu haben scheint.
(»Diese unheimliche Sache, die sie mit ihm hat«, sagt eine
der Personen geringschätzig.) Gegen Ende ihrer ersten Unterhaltung mit Colquitt und Walter sagt Pie voller Wonne:
»Oh, Daddy wird dieses Haus hassen! Oh, er wird reif für die
Zwangsjacke sein!«
Derweil ist Buddy unter die Fittiche von Lucas Abbott genommen worden, einem Neuankömmling in der Anwaltskanzlei, wo Buddy arbeitet. Abbott kommt aus dem Norden,
und wir hören so nebenbei, daß Abbott New York wegen
eines Skandals verlassen hat: »… etwas mit einem Gerichtsdiener.«
Das Haus nebenan, das die tiefsten Schwächen der Menschen gegen sie wendet, wie Siddons sagt, schweißt diese Elemente fein säuberlich und schrecklich zusammen. Gegen
Ende des Einweihungsfestes fängt Pie an zu schreien. Die
Gäste eilen zu ihr, um zu sehen, was ihr zugestoßen ist. Sie
finden Buddy Harralson und Lucas Abbott, die sich in dem
Schlafzimmer, wo die Mäntel aufbewahrt werden, nackt in
den Armen liegen. Pies Daddy hat sie zuerst gefunden, er
windet sich, vom Herzschlag getroffen, auf dem Boden, während seine Punkin Pie schreit …und schreit … und schreit …
Wenn das keine Südstaaten-Gotik ist, was dann?
Die Essenz des Horrors dieser Szene (die mich in gewisser
Weise stark an den Augenblick erinnert, da einem fast das
Herz stehenbleibt, als die namenlose Erzählerin von Rebecca die Party zum Verstummen bringt, als Rebecca in dem Kleid
die Treppe herunterkommt, das auch Maxims gräßliche erste
Frau getragen hat) liegt in der Tatsache begründet, daß hier
nicht nur gesellschaftliche Konventionen gebrochen wurden;
sie sind in unsere schockierten Gesichter explodiert. Siddons
bewerkstelligt diese Dynamitsprengung mit Meisterhand.
Alles geht so schief wie es nur irgend schiefgehen kann;
Leben und Laufbahnen sind auf ewig ruiniert, und das innerhalb von Sekunden.
Wir müssen die Psyche des Horror-Schriftstellers nicht analysieren; nichts ist so langweilig oder ärgerlich wie Leute, die
Sachen fragen wie: »Warum sind Sie so unheimlich?« oder
»Wurde Ihre Mutter von einem zweiköpfigen Hund erschreckt, während Sie noch in utero waren?« Ich werde das
hier auch nicht tun, aber ich möchte darauf hinweisen, daß
viel von dem wuchtigen Effekt von The House Next Door daher rührt, daß die Verfasserin ein so feines Gespür für gesellschaftliche Konventionen hat. Jeder Verfasser von Horror-Geschichten hat eine klare - möglicherweise eine morbid
überentwickelte -Auffassung davon, wo das Land des gesellschaftlich (oder moralisch oder psychologisch) Akzeptablen
aufhört und der große, weiße Raum des Tabus beginnt. Siddons gelingt es besser, die Ränder des gesellschaftlich Akzeptablen vom gesellschaftlich Alptraumhaften abzugrenzen als
den meisten (wenngleich mir Daphne du Maurier wieder einfällt), und ich wette, man hat ihr schon in jungen Jahren beigebracht, daß man nicht mit den Ellbogen auf dem Tisch
ißt …, aber abnormale Liebe im Garderobenraum macht.
Sie kehrt immer wieder zum Bruch gesellschaftlicher Konventionen zurück (zum Beispiel in einem früheren, nicht
phantastischen Roman über den Süden, Heartbreak Hotel), und auf seiner rationalsten, symbolischsten Ebene kann man The House Next Door als komisch-schreckliche soziologische
Abhandlung über Moral und Leben der mittelmäßig
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