Danse Macabre
Kapitels),
denken wir vielleicht an den alten orientalischen Brauch des
Füßeabbindens - nur sind nicht Eleanors Füße abgebunden
worden, sondern der Teil ihres Verstandes, wo die Fähigkeit,
ein unabhängiges Leben zu führen, ihren Sitz hat.
»Es stimmt, daß die Charakterisierung von Eleanor eine
der besten in Miß Jacksons Werk ist«, schreibt Lenemaja
Friedman. »Sie wird lediglich von jener von Merricat in dem
späteren Roman We Have Always Lived in the Castle übertroffen. Eleanors Persönlichkeit hat viele Facetten; sie kann fröhlich, charmant und geistreich sein, wenn sie spürt, daß sie gewollt wird; sie ist großzügig und bereit, sich selbst zu geben.
Gleichzeitig verabscheut sie Theos Egoismus und klagt Theo
des Betrugs an, als sie das Zeichen an der Wand entdecken.
Eleanor ist viele Jahre lang von Frustration und Haß erfüllt:
Sie hat erst ihre Mutter hassen gelernt und dann ihre Schwester und ihren Schwager, weil diese sich ihre unterwürfige und
passive Natur zunutze gemacht haben. Sie bemüht sich, die
Schuldgefühle zu überwinden, die sie wegen des Todes ihrer
Mutter empfindet.
Wenngleich man sie ganz gut kennenlernt, bleibt sie geheimnisvoll. Das Geheimnis ist eine Folge von Eleanors Unsicherheit und ihren geistigen und emotionalen Umschwüngen, die nur schwer auszuloten sind. Sie ist unsicher, und von
daher instabil in ihrer Beziehung zu anderen und ihrer Beziehung zu dem Haus. Sie spürt die unwiderstehliche Kraft der
Gespenster und sehnt sich schließlich danach, sich ihnen zu
unterwerfen. Als sie beschließt, Hill House nicht zu verlassen, muß man annehmen, daß sie dem Wahnsinn verfallen
ist.«*
Hill House ist also der Mikrokosmos, in dem universelle
Kräfte aufeinanderprallen, und in seinem Artikel über The
Sundial (der 1958 veröffentlicht wurde, ein Jahr vor The
Haunting of Hill House) spricht John G. Park von »der
Reise … dem Versuch zu fliehen … ein Fluchtversuch …”widerwärtige Autorität…«.
Dies ist genau die Stelle, wo Eleanors eigene Reise beginnt, und auch das Motiv für diese Reise. Sie ist schüchtern,
zurückgezogen und unterwürfig. Die Mutter ist gestorben,
und Eleanor hat sich selbst der Mißachtung - möglicherweise
des Mordes - angeklagt und für schuldig befunden. Nach dem
Tod ihrer Mutter ist sie fest unter der Fuchtel ihrer verheirateten Schwester geblieben, und es kommt schon früh zu einem
erbitterten Streit darüber, ob es Eleanor überhaupt gestattet
werden soll, nach Hill House zu gehen. Eleanor, die zweiunddreißig ist, behauptet gewohnheitsmäßig, sie sei zwei Jahre
älter.
Es gelingt ihr zu entkommen, wobei sie praktisch das Auto
stiehlt, das teilweise mit ihrem Geld angeschafft worden ist.
Dieser Ausbruch aus dem Gefängnis ist Eleanors Versuch,
dem zu entfliehen, was Park »widerwärtige Autorität« nennt.
Die Reise führt sie nach Hill House, und, wie Eleanor selbst
denkt - mit zunehmender, fiebriger Intensität, während sich
* Friedman: Shirley Jackson, S. 133
die Geschichte entwickelt -, »Reisen enden damit, daß Lie bende sich treffen«.
Ihr Narzißmus wird vielleicht am deutlichsten durch eine
Phantasie etabliert, der sie sich noch auf dem Weg nach Hill
House hingibt. Sie bringt das Auto zum Stillstand und betrachtet »voll Unglauben und Verwunderung« den Anblick
eines von zwei verfallenen Steinsäulen flankierten Tores inmitten einer langen Reihe Oleander. Eleanor erinnert sich,
daß Oleander giftig ist …, und dann:
Werde ich, dachte sie, werde ich aus dem Auto aussteigen
und durch das verfallene Tor gehen, und dann, wenn ich in
dem verzauberten Oleanderbeet stehe, feststellen, daß ich
in ein Märchenland gewandert bin, welches durch Gift vor
den Blicken vorübergehender Menschen verborgen ist?
Wenn ich zwischen den verzauberten Torpfosten hindurch
gewandert bin, werde ich mich jenseits der schützenden
Barriere befinden, der Bann gebrochen? Ich werde in
einen liebreizenden Garten gehen, mit Springbrunnen und
flachen Bänken und an Gittern emporgezogenen Rosen,
und ich werde einen Pfad finden - möglicherweise juwelenbesetzt, mit Rubinen und Smaragden, so weich, daß eine
Königstochter mit Sandalen an den kleinen Füßchen darauf gehen kann -, und er wird mich direkt zum Palast führen, der unter einem Zauber liegt. Ich werde flache Steinstufen emporgehen, vorbei an Wache haltenden, steinernen Löwen, und in einen Innenhof, wo ein Springbrunnen
spielt und die Königin weinend daraufwartet, daß die Prinzessin
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