Danse Macabre
Ordnung; erst wenn
wir das wahrnehmungsmäßige Äquivalent ihrer Winkel zusammenzählen, erhalten wir ein Dreieck, dessen Winkelsumme ein klein wenig mehr (oder weniger) als einhundertachtzig Grad ist.
Wie Anne Rivers Siddons betont, ist alles in Hill House
etwas schief. Es gibt nichts, das vollkommen gerade oder vollkommen eben ist - was der Grund dafür sein mag, daß ständig Türen auf- oder zuschwingen. Diese Vorstellung des
Schiefen ist für Jacksons Konzept des Ortes des Bösen von
größter Bedeutung, denn es verstärkt den Eindruck veränderter Wahrnehmung. In Hill House zu sein ist, als hätte man
eine schwache Dosis LSD eingeworfen, so daß alles seltsam
aussieht und man den Eindruck hat, als würde man jeden Augenblick zu halluzinieren anfangen. Aber so weit kommt es
nie. Man betrachtet lediglich voller Unglauben ein Buntglasfenster … oder eine dekorative Urne … oder das Muster des
Teppichs. In Hill House zu sein ist, als befände man sich in
einem dieser Trick-Zimmer, in denen die Leute an einem
Ende groß und am anderen klein aussehen. In Hill House zu
sein ist, als würde man nachts auf einem Bett liegen, nachdem man drei Drinks mehr zu sich genommen hat, als man
verträgt …, und den Eindruck haben, als würde das Bett anfangen, sich langsam im Kreis zu drehen …
Jackson deutet das alles an (stets mit ihrer leisen, eindringlichen Stimme - hier und durch The Turn of the Screw mag
Peter Straub seine Vorstellung erhalten haben, daß Horror
am besten funktioniert, wenn er »doppeldeutig und verhalten und zurückhaltend« ist), und dabei ist sie still und vernünftig; niemals wird sie grell. Es ist nur so, sagt sie, in Hill
House zu sein macht etwas Fundamentales und Unangenehmes mit dem Schirm der Wahrnehmung. So, deutet sie an,
könnte der telepathische Kontakt mit einem Wahnsinnigen
sein.
Hill House ist böse; wir alle akzeptieren Montagues Postulat. Aber inwieweit ist Hill House für die anschließenden Phänomene verantwortlich? Klopfen in der Nacht ertönt - besser
gesagt, lautes Donnerhallen -, das Eleanor und Theo gleichermaßen erschreckt. Luke und Professor Montague versuchen, einen bellenden Hund aufzuspüren, und verirren sich
einen Steinwurf von dem Haus entfernt - Schatten von Canavan dem Buchhändler (Brennans Story entstand vor The
Haunting of Hill House) und Charles Grants seltsamer kleiner Stadt Oxrun, Connecticut. Theos Kleider sind mit einer
übelriechenden roten Flüssigkeit besudelt (»rote Farbe«, sagt
Eleanor …, aber ihr Entsetzen deutet auf eine bedrohlichere
Substanz hin), die später wieder verschwindet.
Mit derselben roten Substanz werden folgende Worte geschrieben, zuerst auf dem Flur, dann auf dem Schrank, in
dem die verdorbenen Kleider aufgehängt worden sind: KOMM
NACH HAUSE, ELEANOR … HILFE ELEANOR, KOMM NACH
HAUSE, ELEANOR.
Hier, in dieser Schrift, vermengen sich Eleanors Leben und
das des bösen Hauses, des Ortes des Bösen, auf untrennbare
Weise. Das Haus hat sie bestimmt. Das Haus hat sie auserwählt …, oder ist es umgekehrt?Wie dem auch sei, Eleanors
Vorstellung, daß »am Ende von Reisen Liebende sich treffen«, wird noch geheimnisvoller.
Theo, die über telepathische Fähigkeiten verfügt, vermutet immer mehr, daß Eleanor selbst für den größten Teil der
Erscheinungen verantwortlich ist. Zwischen den beiden
Frauen hat sich eine unterschwellige Spannung gebildet, äußerlich wegen Luke, da Eleanor angefangen hat, sich in ihn
zu verlieben, aber wahrscheinlich fußt sie tiefer, in Theos Ahnung, daß nicht alles, was in Hill House geschieht, von Hill
House ausgeht.
Wir wissen, daß es in Eleanors Vergangenheit ein Auftreten
vonTelekinese gegeben hat; im Alter von zwölf Jahren fielen
Steine herab und »prasselten wie von Sinnen auf das Dach«.
Sie leugnet - leugnet hysterisch -, daß sie etwas mit dem Vorfall zu tun hatte, statt dessen konzentriert sie sich auf die Verlegenheit, in die er sie gebracht hat, auf die ungewollte (je denfalls behauptet sie, daß sie ungewollt war) Aufmerksamkeit, die ihr zuteil wurde. Ihr Leugnen hat auf den Leser eine
seltsame Wirkung, die im Licht der Tatsache zunehmendes
Gewicht erhält, daß alle Phänomene, welche die vier in Hill
House erleben, entweder auf Poltergeister oder telekinetische Fähigkeiten zurückgeführt werden könnten.
»Sie haben mir noch nicht einmal gesagt, was vor sich
ging«, sagt Eleanor drängend, nachdem sich die Unterhaltung schon längst vom Thema des Steinregens entfernt hat niemand
Weitere Kostenlose Bücher